17 Ekim 2022 Pazartesi

Tödlicher Mai: Leben und Tod im türkischen Widerstand


 

Tödlicher Mai: Leben und Tod im türkischen Widerstan

Nihat Behram

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Es war in den letzten Tagen des September. September 1973 ... Der in Schmerz gehüllte Herbst eines Jahres, dessen Frühling wir schon in Schmerzen begegnet waren, dessen Sommer wir in Schmerzen durchlebt hatten.

Ich war in Istanbul und gleichzeitig ganz woanders. Ein Teil von mir war in Istanbul, ein anderer Tausende von Jahren entfernt. Istanbul war eine Stadt, von der wir gerade eben aus der Ferne den Himmel sehen konnten. Und auch das nur zwischen Metallgittern hindurch, wenn wir bis dorthin kamen ...

Mitten in der Stadt waren wir, doch zwischen Istanbul und uns lagen dicke Steinmauern. Seit Monaten schon saß ich in einer Zelle des Militärgefängnisses Davutpasa ein. Voller Sehnsucht nach einer Welt, in der jeder Mensch frei sein durfte, zählten wir in dieser fin­steren, wie eine Wunde mitten in die Stadt gemeißelten Höhle die Herbsttage des Jahres 1973. Was unsere Sehnsüchte aufrechterhielt, war das Bemühen, an einem menschenwürdigen Leben festzuhalten.

Einer der letzten Tage im September: Wir besitzen ein kleines, batteriebetriebenes Radio, das wir Teil für Teil zwischen Klei­dungsstücken hereingeschmuggelt und wieder zusammengebaut haben. Wie eine Geliebte, die uns Nachrichten bringt von der Au­ßenwelt, halte ich das Radio in meinem Arm.

Tagesanbruch: Ich liege in meinem Bett, presse das Radio an mein Ohr und versuche, etwas zu verstehen. Zwischen Rauschen und Pfeifen bekomme ich Bruchstücke einer Nachricht mit: »In Chile ... Pablo Neruda ... Nachricht vom Tod ... die versammelte Menge ...« Es ist ja kein Buch in deiner Hand, daß du deine Au­gen darauf richten und es wieder und wieder lesen kannst, auf daß du es begreifst beim zehnten Mal. Nein. Nur ein kleines, improvi­siertes Radio. Es ist ja nicht das Stöhnen des Menschen, der ge­schunden von der Folter im Bett nebenan liegt, ein Wort von ihm, damit ich fragen kann: »Was ist? Brauchst du etwas?« Nein. Nur die leichten Schläge unserer Herzen auf der anderen Seite der Welt.

So schnell ich die Nachricht gehört hatte, so schnell war sie auch wieder verschwunden. Das Radio, dem ich zuhören mußte, wie um Schritt zu halten mit der Zeit draußen, der Zeit, die in diesem Ge­fängnis totgeschlagen und zum Stillstand gebracht war, schien plötzlich fremd an meiner Brust. Kaltes, gefühlloses Metall...

Unruhig wälzte ich mich im Bett hin und her, kam mir vor, als sei ich lebendig begraben. Was die Nachricht bedeutete, war, daß der, der allein unsere Schmerzen lindern konnte, jetzt in seinem ei­genen traurigen Strom von uns zog. Dieses Licht, dessen Atem wie eine Panflöte unsere Herzen den Freuden und Sehnsüchten der Menschheit entgegenwehte und ihnen Ausdruck verlieh, war jetzt erloschen...

Bei Tagesanbruch stand ich auf und trug meinen Freunden die Gedichte Nerudas vor, die mich am meisten berührt hatten. Mit Worten von ihm, die mir im Gedächtnis geblieben waren, gab ich die Nachricht von seinem Tod weiter. Dann schrieben wir eines sei­ner Gedichte, »Gesang für die Mütter toter Republikaner«, auf ein Blatt Papier und befestigten es an der Zellenwand. Einige von uns hatten schwere Folterwunden. Andere waren nah am Tod vorbei­gegangen und hatten gesehen, wie ihre besten Freunde starben. Da waren gerade erst von den Folterkammern Zurückgekehrte und an­dere, die jeden Moment der Weg dorthin erwartete. In einer sol­chen Atmosphäre, in Istanbul, in dieser steinernen, in die Stadt ge­meißelten Höhle, erhielten wir die Nachricht vom Tode Pablo Ne­rudas aus einem anderen Teil der Erde. Es war an einem Herbst­tag, an einem der letzten Tage im September 1973. Tage, in denen in Chile die Geschichte mit Bajonettspitzen auf die Haut der Men­schen geschrieben wurde (sie haben noch kein Ende gefunden, die­se Tage). Tage, in denen auch in der Türkei Blut vergossen wurde (und auch sie haben noch kein Ende gefunden).

Am 12. März 1971 war es zu einem Militärputsch gekommen; in ganz Anatolien bliesen die Putschisten zur Menschenjagd. Was sie auf den Füßen zu halten schien, war ihre Blutgier.

Junge Menschen, noch nicht einmal dem Kindesalter entwach­sen, wurden in die Zelle im Militärgefängnis eingewiesen, in der auch ich einsaß. Jeder von ihnen war durch monatelange Folter ge­gangen. Man überließ sie dort ihren Wunden; andere wurden mit­genommen. Die ersten Ansätze dessen, was ich später schrieb - einen Teil davon gibt dieses Buch wieder - sammelten sich in jenen Tagen in mir. Begleitet hat mich der »Gesang für die Mütter toter Republikaner«. Ich saß im Gefängnis als ein junger Dichter, dessen erster Gedichtband von den Putschisten verboten worden war.

Der Enthusiasmus der 68er griff auf der ganzen Welt um sich und zog auch die Türkei in seinen Bann. Wie überall, fand die Be­wegung um 1966/67 Anhänger besonders unter der akademischen Jugend. Forderungen bezogen sich sowohl auf die akademischen Institutionen als auch auf den politischen Aufbau des Landes. Tag für Tag fanden Massenaktionen der Studenten und Jugend statt. Die Sicherheitskräfte des Staates gingen mit Waffengewalt dagegen vor. Als es Tote in den Reihen der jungen Menschen gab, began­nen einige sich zum Schutz ebenfalls zu bewaffnen.

Es gab einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der 68er Be­wegung in Europa und der in der Türkei: Der Kampf in der Türkei beinhaltete auch antiimperialistische und antifaschistische Forde­rungen. So waren Aktionen gegen die amerikanische Flotte, die vor Istanbul vor Anker lag, gegen die NATO-Basen im Land und ge­gen die faschistischen Organisationen wesentliche Momente der Bewegung. Von der akademischen Jugend geführt, entstanden poli­tische Organisationszusammenhänge, die sich dem Aufstand gegen die Gesellschaft verschrieben.

Als diese Bewegung mit der tiefen ökonomischen Krise zusam­mentraf, in der das Land sich befand, begannen demokratische Forderungen auch unter den breiten Volksschichten aufzukom­men. Was die 68er Studenten mit den Universitätsbesetzungen vor­geführt hatten, griff auf die ländlichen Gegenden über; es kam zu Landbesetzungen mit der Forderung nach einer Landreform und zu Fabrikbesetzungen in den Industriegebieten. Am 15. und 16. Ju­ni 1970 wurde Istanbul Schauplatz zahlreicher Aktionen der Arbei­ter. Zehntausende verließen die Fabriken und füllten die Straßen. Über Barrikaden hinweg, die die Militärs mit Panzern aufgebaut hatten, führten die Arbeiter ihren Zug. Die akademische Jugend der 68er bewegte sich innerhalb der Volksbewegungen in den Indu­striegebieten und ländlichen Gegenden. Einige der jungen Men­schen wurden zu Führern der Bewegung. Regierungskräfte und von der Regierung unterstützte zivile faschistische Kräfte machten Jagd auf sie. Viele junge Menschen wurden getötet...

Am Morgen des 12. März 1971 erlebte die Türkei einen Militär­putsch. Die Putschisten ordneten den Ausnahmezustand an und verfügten ein ganztägiges Ausgangsverbot. Tausende von Regime­gegnern holten sie aus ihren Häusern und verhafteten sie. Listen wurden veröffentlicht, Listen von Menschen, die für vogelfrei er­klärt wurden, wenn sie sich nicht ergaben. Die Militärs umzingel­ten Fabriken und Universitäten und unterwarfen sie ihrer Kontrol­le. Alle fortschrittlichen Veröffentlichungen wurden verboten, alle nonkonformistischen Organisationen geschlossen. In dieser Zeit zogen viele junge Menschen aus den großen Städten nach Anato-lien. Einer von ihnen war Ibo, ein Kind des Volkes, der seinen Platz gefunden hatte in der akademischen Jugend der 68er.

Hinrichtungen und Massaker fanden statt: Am Morgen des 6. Mai 1972 richtet man Deniz Gezmis, Yusuf Aslan und Hüseyin Inan, drei Vorkämpfer der Bewegung, entsprechend dem Urteil der Militärgerichtsbarkeit hin. Zehn junge Menschen, auch sie zu den Vorkämpfern dieser Zeit gehörend, wurden in Kizildere am Schwarzen Meer von den Militärs aufgebracht und mit Panzerfeu­er und schweren Waffen derart zusammengeschossen, daß nicht einmal mehr ihre Leichen zu erkennen waren.

Bis 1974 dauerte dieser brutale Terror an. Nach den Wahlen von 1974 wurde eine allgemeine Amnestie für politisch Verfolgte er­klärt. Durch diese Amnestie wieder freigekommen, begann ich, bei einer Tageszeitung zu arbeiten. Das Durchlebte aufzuschreiben, empfand ich als meine vorrangige Pflicht gegenüber meinem Volk und den Menschen, von deren Schmerz ich Zeuge geworden war. Trotz der relativen Freiheit, die die Amnestie von 1974 mit sich brachte, war es verboten, die Wahrheit aufzudecken, das System zu kritisieren. So gab es beispielsweise in bezug auf Ibos Tod außer ei­nem knappen Satz im Protokoll keine einzige offizielle Verlautba­rung: »Verübte während seiner Untersuchungshaft am 18. Mai 1973 Selbstmord«.

Dieses Verbot mußte umgangen, die Menschheit angesprochen werden. Die Veröffentlichung dieser dokumentatorischen Erzäh­lung in der Zeitung führte 1976 dazu, daß mir eine Reihe von Ver­fahren gemacht wurden. Nur kurze Zeit konnte die Buchveröffent­lichung im Handel bleiben. Die mehrmaligen hohen Auflagen brachten die Sicherheitskräfte in Rage; die Polizei überfiel die Druckerei und den Verlag des Buches, bemüht, alles zu zerstören und zu vernichten, was mit dem Buch in Verbindung stand.

Am 12. September 1980 wurde die Türkei abermals Schauplatz eines Putsches. 1971 wiederholte sich in noch schlimmerer Form.

Jahre später, 1988, wurde diese dokumentatorische Erzählung von einem mutigen Verleger in der Türkei erstmals veröffentlicht. Und wieder erfolgte sofort das Verbot und der Befehl, die ganze Auflage zu vernichten. Der Verleger und ich wurden zu schweren Strafen verurteilt. Und was für ein Zusammentreffen: Da heißt es doch in einem Absatz des Strafantrages, den der Staatsanwalt stell­te: »In dem Buch wird mit dem Gedicht von P. Neruda, beginnend mit >das einzige Licht, das uns weckte<, sowie mit der Zeile »sie wendeten ihre Blicke dem Licht zu, suchten ihren Wegs der Kom­munismus als das einzige Licht des werktätigen Volkes beschrieben und entsprechend Kommunismuspropaganda betrieben.« Das heißt, der Staatsanwalt beschuldigte Neruda der »Kommunismus­propaganda«, ein »Vergehen«, auf das in der Türkei 7 ein halb Jahre Ge­fängnis stehen!

Im Mai 1989 las ich in einer türkischen Zeitung eine kurze Nachricht: »Eine im 8. Monat schwangere Lehrerin wurde festge­nommen, nachdem sie ihren Schülern erzählt hatte, daß sie Kurdin sei. Am folgenden Morgen wurde sie in dem Bett, an das sie ange­kettet worden war, tot aufgefunden.«

Inzwischen gehört diese Art von kurzen, zu wenigen knappen Zeilen zusammengepreßten Nachrichten zur alltäglichen Realität in den Zeitungen der Türkei. Die Türkei lebt unter einem Regime, das die Folter systematisiert hat. Unter diesem Regime wird Neru­da jeden Tag ermordet, wird Ibo jeden Tag von neuem gefoltert. Schmerzen werden normalisiert. Der Mensch soll möglichst sogar nach ihnen verlangen - so will es das Regime. Und anstatt die Ge­schichte der Freiheit zu schreiben, schaut die Menschheit unbetei­ligt zu, wie der Schmerz sich in immer dramatischeren Dimensio­nen wiederholt. Ist der pompöse Empfang, der Kenan Evren, dem Chef des faschistischen Militärputsches von 1980 in der BRD berei­tet wurde, nicht ein Beweis dafür? Wenn ja, so ist es schon von da­her wichtig, daß dieses Buch in deutscher Sprache veröffentlicht wird.

Ich lebe seit neun Jahren in Europa im Exil. Nach meinen Erfahrungen weiß man hier nicht viel mehr als Allgemeinheiten über das, was die Menschen in der Türkei durchmachen. Abgesehen vom Bild des »eingewanderten Arbeiters« sind die Menschen aus der Türkei eine unbekannte Größe. Das Wissen beschränkt sich auf das wenige, was die Tagespresse druckt. In der Überzeugung, mit der ich das Buch in der Türkei veröffentlichte, verstehe ich auch die deutsche Veröffentlichung: Wenn es einen Schmerz gibt, der Menschen angeht, so muß dieser Schmerz an die Öffentlichkeit ge­bracht werden. Denn der Schmerz von Menschen ist der Schmerz der Menschheit. Wie Dostojewski sagte: »Gibt es irgendwo auf der Welt einen Schmerz, so müssen wir ihn zu unserem machen.«

Eine andere Beobachtung von mir ist, daß es in Europa über das, was sich in der 68er Zeit außerhalb von Europa abgespielt hat, nicht viel Informationen gibt. Im Rahmen des 20. Jahres nach 1968 wurden letztes Jahr Analysen zuhauf aufgestellt. Alle aber be­schränkten sich auf Europa und waren aus diesem Grund unvoll­ständig. Das Buch, das Sie nun in der Hand halten, versucht einen Eindruck von der mit demokratischem Elan bewegten 68er Gene­ration der Türkei zu vermitteln, einen Eindruck von dem Leben, das diese Generation gezeichnet, von dem Erbe, das diese Genera­tion hinterlassen hat.

Das ist der Boden, auf den Ibo seinen Fuß gesetzt hat: die Berge und der Kerker. Er steht auf, wo er angeschossen und totgeglaubt ist und steigt hoch in die verschneiten, gewaltigen Berge. Für ein Märchen könnte man diese Erzählung halten, deren Sprache als Märchensprache verstanden werden kann. Doch das Erzählte ist nüchterne, gelebte Wahrheit.

Ibo war eine politische Persönlichkeit und befand sich in einem politischen Kampf. Entsprechend gibt es auch theoretische Überle­gungen und klare politische Überzeugungen von ihm. Darum ging es mir aber nicht, als ich über sein Leben schrieb. Politische Über­zeugungen kann man befürworten, man kann sie ablehnen, man kann über sie diskutieren. Was man nicht befürworten kann, wor­über man nicht diskutieren kann, das ist die Folter. Gegen die Fol­ge gibt es nur Kampf. Dieser Mensch, der jedes nur erdenkliche Leid durchmachen mußte, hat als Erbe das Beispiel eines Wider­standes hinterlassen.

Jedesmal, wenn mein Buch in meiner Sprache erschien, wurde esverboten. Indem der Peter Hammer Verlag dieses Buch verlegt, drückt auch er seine Solidarität mit dem Kampf gegen die Folter aus.

Was für ein Leben haben die politischen Flüchtlinge hinter sich, die Sie seit Jahren auf den Straßen sehen, an deren Anblick Sie sich inzwischen wohl gewöhnt haben, deren Flucht in Ihr Land Ihre Re­gierung mit immer neuen Gesetzen zu verhindern sucht, die man als »unerwünschte Personen« abstempelt? Haben Sie sich diese Fra­ge schon einmal gestellt? Und wenn Sie sich diese Frage schon ge­stellt haben, wie haben Sie sie beantwortet?

Während ich diese Zeilen als Vorwort schreibe, wird mir vom Verlag mitgeteilt, daß mein Buch zum September dieses Jahres er­scheint. Ja, September 1989. So komme ich zu meinen einleitenden Zeilen zurück. Und wenn es schon September ist, dann Ehre der unvergeßlichen Erinnerung an Pablo Neruda.Gruß denen, die von Chile bis zur Türkei den Schmerz der Menschheit in sich fühlen und dabei nicht stumm bleiben.

Nihat Behram Wuppertal, Juli 1989

 

»... Helden leiten mich, deren Reihen nur mit Liebe zu erreichen.

Helden,die Zähne ausgespuckt 

Helden,die Hoden zerquetscht,..« 

A.Arif

 

1973. Es war im Mai. Am 19. Mai. Wie hatte sich dieses Jahr der Himmel erwärmt, wie war die Erde ergrünt, wie hatte sich der Schnee zurückgezogen in die Höhen; wie hatte sich das Eis von den Hängen gelöst, wie war es dahinge­flossen ...?

Ali Kaypakkaya, der sonst so verbunden war mit der Erde, sei­nem Dorf, hatte dieses Jahr weder an den Frühling noch an den Se­gen gedacht, den sich Frühling und Erde vom Himmel erhoffen ...

Seitdem sein Sohn Ibrahim einsaß, pochte ein Schmerz zwischen seinen Brauen, wanderte von seinen Schulterblättern bis zu den El­lenbogen durch seinen ganzen Körper.

Er arbeitete in einer Fabrik, verdiente sein Brot mit der Kraft sei­ner Arme. Kurzum: ein armer Werktätiger ...

Seitdem Ibrahim einsaß, waren auch die Tage am Arbeitsplatz fad geworden. Er war ein Arbeiter, der nicht begreifen konnte, daß das Leben so sinnlos verging, daß Schweiß, Energie und Arbeits­kraft einfach so vergeudet waren. Das erzürnte ihn, er wollte, daß diese dunkle Welt sich änderte. Ein ehrenhafter, gerader Mann aus dem Volk, das war er ...

Aber schon das reichte denen, die ihn von weitem aus den Au­genwinkeln beobachten. Und dann hieß es jetzt auch noch, daß sein Sohn »die Flagge gehißt, sich gegen den Staat erhoben« hätte. Mit den ersten Morgenstrahlen stand er auf, ging an seinen Ar­beitsplatz und arbeitete bis zum Sonnenuntergang. Immer wieder mußte er an Ibrahims Stirn denken, an seine blonden Haare und seine grünen Augen. Ein bitteres Gefühl überkam ihn, als würde sein Sohn ihn zu Hilfe rufen, er aber könne nicht zu ihm eilen. Sein Herz war verwirrt von einer Unruhe, die ihm keine Zeit ließ...

Es war im Mai. Am 19. Mai.

Er würde zu ihm gehen, um ihn zu sehen.

Am Morgen war er wieder in aller Frühe aufgestanden, hatte noch einmal den Brief durchgelesen. Am 9. Mai 1973 hatte Ibo aus seiner Zelle an seinen Vater geschrieben:

Verehrter Vater,

die Papiere, die mir die Leitung der Pädagogischen Hochschule ge­schickt hat, habe ich erhalten. Ich habe darauf eine Antwort geschrieben und sie ihnen geschickt. Doch die Papiere des Oberverwaltungsgerichts habe ich noch nicht bekommen. Deswegen weiß ich auch nicht, auf wel­chem Stand die beiden Verfahren sind, die wir beim Oberverwaltungs­gericht eröffnet hatten. Auch die Urteile der beiden Verfahren, die ich unten erwähne, sind mir nicht bekannt. Ihr Ergebnis kann das Ergebnis der beiden Verfahren beim Oberverwaltungsgericht positiv oder nega­tiv beeinflussen.

Wenn die oben erwähnten Verfahren für uns positiv verlaufen sind, wird es für sie schwieriger werden, mich von der Schule zu werfen. Wenn Ihr die Ergebnisse herausbekommen könntet, wäre das sehr gut.

Viele Grüße, ich küsse Eure Hände.

Auch meiner Oma, meiner Mutter küsse ich die Hände und jedem einzelnen der Kinder die Augen.

Macht Euch keine Sorgen um mich. Mir geht es gut, und ich brauche nichts. Bis bald

Euer Sohn Ibraham

Dieser Brief von Ibo hatte Ali Kaypakka etwas beruhigt und ihm die Hoffnung gegeben, er könne endlich mit seinem Sohn zusam­mentreffen, den er seit Monaten nicht sehen durfte. »Das heißt, die Folter hat nun ein Ende gefunden; Ibrahim ist wieder der alte Ibra­him«, sagte er sich voller Erleichterung..

Sein Sohn wurde wegen schwersten Beschuldigungen vernom­men; seit Monaten schon hatte es keine Nachricht von ihm gege­ben. »Lebte er oder nicht?« Nicht mal von weitem durfte man ihn sehen. Sein Sohn, der durch Tod und Kämpfe gegangen war, inter­essierte sich jetzt wieder bis in Details für alles, wollte Nachrichten haben. »Das heißt, Ibo geht es gut...«

Ali Kaypakkaya faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche. Er ging Ibos Bestellungen und was er für ihn zusam­mengestellt hatte eins nach dem anderen durch und kontrollierte alles.« Es soll nichts fehlen«, sagte er sich. Dann faltete er die Pa­piere sorgfältig zusammen und steckte sie in die Taschen. Er war aufgeregt, voller Unruhe; am liebsten wollte er sich gleich auf den Weg nach Diyarbakir machen.

Doch vor einer Woche hatte er seinem kleineren Sohn ein Ver­sprechen gegeben. Am Morgen als er aus dem Haus ging, hatte er sie wieder daran erinnert. »Vergeßt nicht, zu kommen, um mir zu­zuschauen!« hatte er gesagt. Er wollte, daß seine Mutter und sein Vater ihm bei den Paraden zum 19. Mai* zuschauten.

Ali Kaypakkaya hatte dem Wunsch seines Sohnes nachgegeben und versprochen: »Deine Mutter und ich werden kommen, dir zu­zuschauen.«

Dann gingen sie hin.

Auf den Tribünen verfolgten Tausende von Eltern die Vorfüh­rungen, suchten aufgeregt nach ihren Kindern und zeigten sie sich gegenseitig.

Ali Kaypakkaya und seine Frau hatten von weitem wie einen Punkt, wie eine Schneeflocke ihr Kind entdeckt. Eine Weile schau­te er versunken auf seinen Sohn. Eine Hand lag auf seiner Brustta­sche, auf den Schreiben, die er Ibrahim bringen wollte. Ein saurer, herber Geschmack hatte sich in seiner Kehle breitgemacht, beim Sprechen legte er sich unwillkürlich auf seine Stimme.

Dann hielt er es nicht mehr aus und begann zu weinen. Er be­deckte sein Gesicht mit den Händen. Während er so still und heim­lich in sich hinein weinte, stieß ihn seine Frau an:

»Mußt du immer so sein? Blamier das Kind doch nicht!«

»Mir kommt Ibrahim in den Sinn«, hatte Ali Kaypakkaya seiner Frau mit gepreßter, halb verschluckter Stimme geantwortet. »

 Es gab einmal eine Zeit, da ging er in der gleichen Kleidung zu solchen Umzügen. Jetzt sind ihm die Füße verkrüppelt, die Kno­chen gebrochen; keiner weiß, ob er laufen kann, ob er angekettet ist oder nicht; in der dunklen Zelle eingeschlossen ... Daran muß ich denken ...«

Später verließen sie das Stadion. Voller widerstreitender Gefühle durchquerten sie die engen Straßen Ankaras in Richtung auf die är­meren Häuser...

Noch einen 19. Mai hatten sie hinter sich gebracht, noch einen Tag, an dem in ihrer Heimat Tausende von jungen Menschen in Ketten gelegt, Hunderte ermordet wurden.

Mit anbrechender Dunkelheit verließ Ali Kaypakkaya allein das Haus. Er erreichte den Busbahnhof und stieg in einen Bus, der ihn nach Diyarbakir bringen sollte. Die Straßenlaternen waren gerade angegangen und der Bus schlängelte sich durch den Verkehr aus der Stadt. Diesmal ging Ali Kaypakkaya mit einem anderen Vorge­fühl als sonst auf die Reise. Bis heute hatte man jeden seiner Versu­che, seinen Sohn zu sehen, zurückgewiesen. Diesmal sollte er sei­nem Sohn wirklich nahe sein können. An bergigen Abhängen, an neu ergrünenden Feldern vorbei zog der Bus dahin.

»Vielleicht lassen sie uns nur ganz wenig Zeit«, dachte er und legte in seinem Kopf noch einmal alles zurecht, was er sagen woll­te, ordnete alles nach Wichtigkeit und wählte aus.

»Allein schon all die Grüße zu bestellen, dauert zehn Minuten.« Soweit er gehört hatte, war die Besuchszeit auf zehn Minuten be­grenzt. »Es geht auch, wenn ich keine Grüße bestelle«, dachte er. »Hauptsache, ich kann ihm das erzählen, was er wissen wollte.« Hoffnung kam in ihm auf: »Vielleicht geben sie uns etwas mehr Zeit, weil ich ihn seit Monaten nicht sehen durfte.«

Dann erinnerte er sich an vergangene Tage, und mit den Gedan­ken daran gab er sich schon fast damit zufrieden, seinen Sohn nur von weitem zu Gesicht zu bekommen. »Hauptsache ich sehe, daß er gesund ist.«

Derweil führten ihn seine Gedanken fort. Es war im Jahr 1949; Ibrahim war gerade geboren, und er ging, um ihn nach Hause zu holen. Warm eingewickelt legten sie ihn in seine Arme. Er schaute ihm ins Gesicht, legte ihn in die Wiege und machte sich auf den Weg in das Cafe des Dorfes, um von seinem neugeborenen Sohn zu erzählen.

Der Bus glitt wie ein Lichtpfeil durch die nächtliche Dunkelheit auf Diyarbakir zu; der Motorenlärm entfernte sich immer mehr und überließ seinen Platz einem Lächeln in Ali Kaypakkayas Au­genwinkeln, das das Aussehen von Ibo trug...

Brief an seinen Vater, aus der Zelle geschrieben

 

»... Von den Toten komme ich, singend, um zu leben komme ich. Laß eine glänzende Wunde mir ihre Stimme leihen. Auf meiner Wunde zu laufen lehrte mich das Messer des Henkers. Zu laufen, zu laufen, ohne zu ermüden. Zu widerstehen lehrte es mich. Zu widerstehen...« M. Dervis

Ibo war gerade erst 2-3 Jahre alt, als seine Eltern sich trennten. Ali Kaypakkaya heiratet eine andere Frau aus seinem Dorf. Seine neue Frau ließ Ibrahim zu keiner Zeit seine eigene Mutter vermis­sen. Ibrahim bekam noch mehr Geschwister. Das tägliche Brot des armen Hauses wurde statt in drei erst in fünf und dann in sechs Teile geteilt.

Bis zu seinem neunten Lebensjahr hütete Ibo im Dorf Schafe und Ziegen. Er hatte ein starkes Wesen, in dem sich Widerspenstig­keit und Kampflust mit Besonnenheit und Hilfsbereitschaft misch­ten. Alles um ihn herum versuchte er mit großer Wißbegierde zu verstehen. Welche Aufgabe man ihm auch übertrug, er war bereit und kam nicht zurück, ohne seine Arbeit erledigt zu haben.

Als Ibo neun Jahre alt wurde, schickte Ali Kaypakkaya ihn in das Dorf Karamahmut, das zwanzig Kilometer entfernt lag. Dort ließ er ihn bei seiner Schwester und schrieb ihn in die Schule ein. Die erste und zweite Grundschulklasse besuchte Ibo in diesem Dorf. Nach der zweiten Klasse brachte sein Vater ihn zu der Schule des Dorfes Ortakisla. Dort verbrachte Ibo ein weiteres Schuljahr.

Schon in diesen Tagen liebte er die Wettkämpfe mit Gleichaltri­gen und lag meist vorne. Doch zu keiner Zeit verfiel er deswegen in Selbstgefälligkeit, und nie zog er deswegen seine Freunde auf. Oft zeigte er gar nicht, daß er einen Wettkampf hätte gewinnen können. Er wollte, daß andere sich für besser hielten und sich freu­ten. Die vierten und fünften Klassen besuchte er in dem Dorf Alacaköy.

Er war verwurzelt in seinem Dorf. Als wenn er eingehen würde, wenn man ihn umpflanzte. Gleichzeitig hatte er einen bemerkens­werten Drang zu lernen. Wenn er zum Viehhüten loszog, hatte er Stift und Heft bei sich und ackerte das Schulbuch unzählige Male von vome bis hinten durch.

»Ich werde Lehrer«, sagte er zu seinem Vater, als er die fünfte Klasse beendet hatte. Ali Kaypakkaya unterstützte diesen Wunsch seines Sohnes. Er schickte Ibo zur Prüfung für das Internat. Die Familie war ziemlich arm. Ibo bestand die Prüfung und wurde als Internatsschüler in die Hasanoglan-Lehrerschule aufgenommen.

Sechs Jahre seines Lebens verbrachte er in dieser Schule. In den Ferien kam er in sein Dorf und half seiner Mutter, seinen Schwe­stern, seiner Familie; er packte an, wo auch immer Arbeit 'anfiel.

Er schien einfach nicht zu ermüden, wenn er mit der Sense arbei­tete und versetzte andere, die viel älter waren als er, in Erstaunen. Während seine Schulkameraden sich von den Dorfbewohnern fern hielten und sich nicht an der Arbeit beteiligten, war Ibo immer da­bei. Er zog Kreise auf dem Dreschplatz, arbeitete mit der Sense, holte das Getreide ein, erledigte, was immer im Haus zu erledigen war...

Seine ersten revolutionären Gedanken begann er selbständig in Hasanoglu zu entwickeln. Er las und las und die gewonnenen Er­kenntnisse veränderten sein Verhalten und seine Beziehungen zu den anderen.

Sobald er aber aus der Schule zu den Dorfbewohnern kam, wur­de er „einer von ihnen", ging von Haus zu Haus bei den Ärmsten des Dorfes vorbei, fragte nach ihrem Wohlergehen, hörte ihren Sorgen zu.

Ali Kaypakkaya arbeitete zu dieser Zeit als Maurermeister. Er war ein Arbeiter; mal hungrig, mal satt. Wenn Ibo ins Dorf kam, war der erste, zu dem er ging, um sich nach dessen Wohlergehen zu erkundigen, ein Mann, der das Vieh der armen Leute hütete. »Vater«, sagte Ibo, »solche Leute wie Onkel Hasan sind eigentlich diejenigen, die es verdienen, daß man ihnen die Hände küßt...«

Er war 16 oder 17 Jahre alt geworden, und es gab selbst in den umliegenden Dörfern keinen, der nicht seinen Namen gehört hatte. »Wenn Allah uns ein Kind gibt, möge es wie Ibo sein!« hieß ein frommer Wunsch.

Da er nicht nur wegen seiner Stärke, sondern auch durch seine Gedanken unter den Altersgenossen auffiel, zog er die Aufmerk­samkeit der Reaktionäre auf sich.

Über einen Aufsatz, mit dem Titel »Ich mag kein Grün«, den er in der Schule schrieb, regte sich einer seiner Lehrer fürchterlich auf. »Du magst wohl Rot lieber?!« hatte er gesagt und begonnen, ihn zu schikanieren.

Ibo bestand die Abschlußprüfung in Hasanoglu »mit Auszeich­nung«. Er kam auf die Kandidatenliste für die Capa-Lehrerschule. Istanbul eröffnete seinem Leben eine neue Welt.

Er kam nach Capa mit noch sehr primitiven revolutionären Ge­danken, die er selbst in sich hatte keimen lassen. Schon im ersten Jahr wurde aus dem Keim ein Sprößling, aus dem Sprößling eine starke Pflanze.

Seine Entwicklung schien unaufhaltbar. Er begann, die hellsten und für revolutionäre Gedanken offensten Köpfe der Schule um sich zu sammeln. Innerhalb kurzer Zeit baute er eine Gemeinschaft mutiger und fortschrittlicher Studenten auf. Tag und Nacht disku­tierte er mit ihnen und bemühte sich ununterbrochen, die Gruppe zu vergrößern und zu stärken.

Eine seiner herausragendsten Eigenschaften war, daß er seine Beziehung zum Dorf nie abbrach. Er nutzte jede Möglichkeit, sein Dorf zu besuchen, brachte dabei Zeitschriften und Bücher mit, wanderte in die umliegenden Dörfer und redete mit den Bewoh­nern.

Bald tauchte Ibos Name in den »Akten« auf. Der Polizei »flo­gen« ständig Hinweise zu. Man war verunsichert von diesem Stu­denten, der in kein Schema paßte.

Es war das Schuljahr 1966-67. Ein Jahr, das in bezug auf studen­tische Aktivitäten eher ruhig verlief. Linke Gedanken verbreiteten sich unter der akademischen Jugend - abgesehen von einigen weni­gen Höhepunkten - eher in ruhigen Wellen.

Und einer dieser »Höhepunkte« war Ibo. Er war eine der Perso­nen, die Capa innerhalb kurzer Zeit zu einem Mittelpunkt der stu­dentischen Bewegung werden ließen.

Seine erste öffentliche Aktion begann mit einem Flugblatt, das er geschrieben hatte. Der Schriftsteller und Journalist Cetin Altan war auf einer Vortragsreise von Reaktionären angegriffen worden. »Wenn revolutionäre Kräfte auf derartige Angriffe nicht sofort ant­worten, dann geben sie ihnen Raum, sich heimtückisch auszubrei­ten. Dann wird es nicht mehr lange dauern, bis Blut fließt«, sagte er und forderte seine Freunde auf, aktiv zu werden. Es kam zu einer großen Unterschriftenkampagne.

Dies war die erste öffentliche Aktion in seinem Leben, die seinen Namen trug. Seine revolutionäre Energie hatte Gestalt angenom­men und entwickelte sich von Tag zu Tag. Wo immer ein Seminar, eine Podiumsdiskussion oder eine andere Veranstaltung stattfand, da war Ibo zu sehen. Er saß irgendwo in der Ecke, hörte zu, mach­te sich Notizen und stellte Fragen. Obwohl er sich für das Studium selbst nur sehr wenig Zeit ließ, war er ein erfolgreicher Student. Insbesondere in Mathematik war er so gut, daß er auch anderen Studenten helfen konnte. Doch den Großteil seiner Zeit nutzte er, um im Rahmen seiner Überzeugungen gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen.

Das Schuljahr 1967-68 begann bewegter als das vorangegange­ne. Ein Teil dieser umfassenden Bewegung war um Ibo herum ent­standen. Er hatte sich zu einem Sprecher entwickelt, und seine Freunde von der Notwendigkeit überzeugt, sich zu organisieren.

Und Ibo gründete den »Fikir Kulüp«s" der Capa-Hochschule für Lehrer, der an die »Fikir-Kulüp-Föderation« angeschlossen war. Die Freunde, die mit ihm zusammen zu den Gründungsmitgliedern des Klubs gehörten, wählten ihn zum Vorsitzenden.

Für Ibo begann nun eine neue Periode, denn als Sprecher hatte er noch größere Verantwortung. Er schrieb die Gründungserklä­rung des Vereins und verteilte sie mit seinen Freunden in der Schu­le. So rief er in aller Öffentlichkeit alle fortschrittlichen und revolu­tionären Studenten der Schule zur Einigkeit und zum gemeinsa­men Kampf gegen reaktionäre und faschistische Elemente auf.

Die Schulleitung wurde durch die aufkommenden Ereignisse un­ruhig. »Diese Bewegung muß noch im Keim erstickt werden, bevor sie Wurzeln treibt und sich nicht mehr ausrotten läßt«, hieß es. Die Schulleitung handelte schnell, nutzte die Ferien im Februar für ei­nen Beschluß. Gegen zehn Gründungsmitglieder des Vereins wurde ein einmonatiges Hausverbot ausgesprochen. Aber damit be­gnügten sie sich nicht - sie zeigten Ibrahim und seine Freunde bei der Staatsanwaltschaft an.

Einen Monat lang hielt sich Ibo in Wohnungen von Freunden, in anderen Schulen und in Gemeinschaftsräumen auf. Tagsüber war er aktiv, wo immer er gebraucht wurde. Sein ganzes Verhalten drückte die »Bescheidenheit eines normalen Militanten« aus. Da er nicht dem geringsten bourgeoisen Verhalten nachhing, konnte ihn das Hausverbot weder schrecken noch verunsichern, noch von sei­nen Ideen abbringen.

Er verstand es als eine selbstverständliche Antwort der Reaktio­näre.

Und es kam zu dem Punkt, an dem sich die sanfte Wellenbewe­gung der politischen Arbeit in aufgewühlte Seen verwandelte. Die Revolutionäre begannen mit Besetzungsaktionen an den Universi­täten.

Ibo hielt bei diesen Besetzungen bis zum Morgen Wache. Er dis­kutierte am Feuer über die Aktionen, warf sich bei Schlägereien in die vorderste Reihe und war mit Herz und Seele dabei...

 

 

»... Die Worte eines Marsches, sie sind das Licht der Hoffnung,

der Kraß und des Widerstandes... Die Worte eines Marsches,

 sie nähren sich auf der Stirn,vor den Augen, aus dem Stoff des

Herzens... Die Worte eines Marsches,

haben unbeugsame Arme, haben unbeugsamen Willen...

Kraß, die ihnen Stimme verleiht springt auf wie eine Knospe,

 dort, wo der Zweig zu den Sternen reicht...« N. Bebram

Schließlich begann er, Artikel für Zeitschriften zu verfassen. Während seiner Studentenzeit erschienen nacheinander in Zeit­schriften wie Forum, Am, Türk Solu, Aydmlik Sosyalist*, Artikel von ihm.

Am. 2. Kongreß der Fikir Klub-Föderation (FKF) - dieser Kon­greß ist historisch wichtig, da hier zum ersten Mal deutliche Mei­nungsverschiedenheiten in der Bewegung zum Ausdruck kamen -nahm Ibo als Delegierter von capa teil. Er hatte sich inzwischen zu einer der wichtigsten Personen bei den revolutionären Aktivitäten entwickelt.

Im Studienjahr 1968-69 nahm die Intensität der Aktionen zu. Die Spannung hatte sich erhöht. Innerhalb der linken Bewegung war die Diskussion um den demokratischen Kampf entflammt. Auch Ibo und seine Freunde hatten in capa alle Hände voll zu tun.

Ibo war auf der einen Seite bemüht, seine Freunde ständig »in Aktion« zu halten, auf der anderen Seite war er ihnen ein Vorbild in dem ständigen Bemühen um ihre Bildung. »So«, sagte er, »wer­den sie in der Hitze der Aktion reifen und gleichzeitig mit dem wis­senschaftlichen Sozialismus konfrontiert«.

Um ihn zu behindern und anzugreifen, dachten sich seine Geg­ner alle möglichen Methoden aus. Auch die reaktionär-fundamen­talistischen Kräfte an der Schule hetzten sie auf....

Am 29. Oktober und am 10. November bereitete Ibo Flugblätter des FKF vor, die in capa verteilt werden sollten. Er selbst hatte sie geschrieben und geholfen, sie zu verteilen.

Dies nahm der Disziplinarausschuß der Schule zum Anlaß für eine erneute Konfrontation. Die Nähe des Schulleiters zu rechten Kreisen war bekannt. Er war vom Ministerium in capa eingesetzt worden.

Die Begründer der FKF an der Schule wurden »auf Beschluß des Disziplinarrates hin« bestraft. Sie durften nicht mehr im Studenten­wohnheim wohnen.

 

Ibo und seine Freunde erklärten, daß sie sich »gegen diese Strafe wehren und den Beschluß nicht anerkennen« würden. Mit Verstär­kung von außen versammelten sich die faschistischen und die reak­tionär-fundamentalistischen Elemente der Schule vor dem Eingang. Sie bereiteten sich darauf vor, den revolutionären Studenten den Eintritt in die Schule zu verwehren.

 

Ibo und seine Freunde ließen sich von diesen Drohgebärden nicht einschüchtern. So begann ein erbarmungsloser Kampf. Die Gegner benutzten bei diesem Ereignis zum ersten Mal Feuerwaffen. Ein re­aktionärer Student namens sefik feuerte mit seiner Pistole auf die protestierenden Studenten; mehrere wurden in diesem Kampf ver­letzt. Ibo gab nicht auf, auch als er von Ketten und Schlagstöcken schwer verletzt worden war. Sie erreichten, daß die Fundamentali­sten sich zurückzogen. Daraufhin rief der Rektor der Schule Poli­zeieinheiten. Die Revolutionäre wurden von der Schule geworfen und durften das Studentenwohnheim nicht mehr betreten.

 

Für diese Studenten - alle stammten aus armen Familien - war der Hinauswurf aus dem Wohnheim ein schwerer Schlag. Ibo kämpfte gegen Anflüge von Depression oder Aufgabe bei den Stu­denten, die mit ihm aus der Schule geworfen worden waren. Er er­läuterte ihnen die »politische Bedeutung dieser Vorgänge im Rah­men der allgemeinen Bedingungen in der Türkei«. Er versuchte zu erreichen, daß seine Freunde sich von »revolutionären Inhalten« und nicht von bourgeoisen leiten ließen. »Um zu siegen, dürfen wir uns von den Niederlagen nicht kleinkriegen lassen«, sagte er.

Einige fortschrittliche Studenten, die in der Schule blieben, zeig­ten in dieser Zeit eine beispielhafte Solidarität mit ihren hinausge­worfenen Freunden. Heimlich halfen sie ihnen, brachten ihnen Es­sen aus der Mensa mit, teilten ihre Betten mit ihnen ...

Ali Kaypakkaya hatte gehört, daß sein Sohn von der Schule ge­wiesen worden war und war ziemlich traurig darüber.Er wollte, daß er so schnell wie möglich die Schule beendete. Er hatte ihn unter schwersten Bedingungen, in Armut großgezogen und sich jeden Bissen abgespart...

Er machte sich auf nach Istanbul. Er wollte mit seinem Sohn sprechen, ihn überzeugen. Er hatte einen Bekannten in Istanbul, jemanden, auf den man hörte. Sein Name war Sevki Bey. Er war DP*-Provinz-Vorsitzender gewesen, inzwischen war er Inhaber ei­nes Lagerhauses. Ali Kaypakkaya suchte ihn auf und erzählte ihm ausführlich von dem »Schlamassel«, im dem Ibo steckte.

»Ich kann das regeln«, sagte Sevki Bey, »aber unter einer Bedin­gung! Dein Sohn soll ein Schreiben aufsetzen, in dem er seine Reue über das ausdrückt, was er getan hat, und verspricht, sich nicht mehr an solchen Aktivitäten zu beteiligen, und ab jetzt weder über die Leitung der Schule noch über die Regierung der Türkei zu re­den. Das soll er unterschreiben, und du bringst es mir her!«

 

Ali Kaypakkaya kannte Ibrahims Charakter. Trotzdem ging er zu ihm: »So und so sieht es aus, mein Sohn«, sagte er. »Wir sind ei­ne arme Familie. Wenn sie an einem Faden ziehen, dann fallen un­sere ganzen Flicken auseinander. Sevki Bey hat es versprochen. >Ich krieg das klar<, hat er gesagt, aber du hör" auf mit deinen Sachen!«

 

Ibo hatte seit jeher einen unendlich großen Respekt vor seinem Vater. Nie hätte er es ertragen können, daß sein Verhalten ihn in irgendeiner Weise verletzt. Als sein Vater nun dies von ihm ver­langte, schwieg er erst eine Weile. Schließlich antwortete er:

»Vater, das ist jetzt nichts gegen dich. Deine Armut ist auch für mich der größte Schmerz; aber genauso wie du, ist das ganze Volk arm, es gibt sogar tausendfach Schlimmeres ... Nur eins möchte ich sagen: Wenn du eine Waffe bei dir hast, erschieß mich; ich wer­de mich nicht wehren. Aber bitte mich nicht, meine Überzeugun­gen zu verleugnen ...

«So sehr sich Ali Kaypakkaya auch bemühte, Ibo ließ sich nicht erweichen.

»Warum macht ihr euch zum Kugelfang?« sagte er, »sieh doch, was für tapfere Freunde von euch schon gefallen sind!« Ohne ihn zu verletzen, versuchte Ibo, geduldig und immer wieder von neuem mit lebendigen Beispielen, seinen Vater aufzuklären.

 Ali Kaypakkaya hatte viele solcher Gespräche geführt mit Ibo. Wenn Ibo mit Menschen aus dem Volk sprach, dann wählte er je­des seiner Worte mit Bedacht aus.- Wenn er Fehler kritisierte, die ei­gentlich aus gutem Willen entstanden waren, wurde er niemals scharf. Wenn sein Sohn mit ihm sprach, sah er sich manchmal als einer, der »seine eigenen Unrichtigkeiten zu verteidigen« suchte und es kam ihm vor, als würde er »eine Sünde begehen«. Dann ver­stummte er und hörte nur noch Ibo zu, um >etwas von ihm zu ler­nen<

Nachdem Ibo von der Schule geworfen worden war, arbeitete er in einem Hotel. Nach einem Streit mit dem Chef ging er. Eine Zeit lang gab er Nachhilfeunterricht in Mathematik. Hatte er gerade ge­nug zum Sattwerden verdient, so reichte es ihm. Lieber wollte er seine Energie und seine Zeit für den Kampf einsetzen.

Einmal hörte er, daß es im Dorf Gerede über ihn gab und fuhr geradewegs hin. Gewisse reaktionäre Elemente hatten, nachdem Ibos Name im Zusammenhang mit studentischen Ereignissen gefal­len war, das Gerücht in Umlauf gebracht, Ibo »bereite den Um­sturz des Staates vor«.

Ibo ging eine Weile in die Gegend, sprach mit den Dörflern, hörte sich ihre Sorgen an. Er erläuterte ihnen die wirklichen Grün­de ihres Leids und sprach von Auswegen.

Nächtelang sprach er mit ihnen, sagte, daß »die Machthaber sich immer mehr auf Gewalt umstellen« und erzählte ihnen aus dem Le­ben der Freunde, die im Kampf gefallen waren.

Wo immer er auch hinging, er wurde mit Liebe empfangen. Wenn er ging, wünschten die Menschen ihm Glück und waren stolz auf diesen »beherzten jungen Mann aus ihren eigenen Rei­hen«.

Wenn Ibo mit den Dörflern sprach, spielte er nie deren Proble­me herunter und redete nie >einfach so daher«. So wie er in aller Offenheit von dem redete, was möglich war, so sagte er auch, was alles nicht möglich war: Dies stärkte das Vertrauen, das man in ihn setzte. Er kannte die Besonderheiten jedes Dorfes, in das er ging. Weder in der Kleidung noch in seiner Art, sich zu bewegen, seiner Achtung vor Sitten und Gebräuchen, seiner Sprache und Redewei­se, unterschied er sich von den Dörflern. Sein Verhalten kam von innen, und er ließ die Dörfler sofort spüren, daß er keiner von

»draußen« war, sondern einer von ihnen, der ihre Sorgen zu den seinen machte.

Er brachte den Dörflern Freude und Leid zum Greifen nah, sie konn­ten sie mit ihren eigenen Augen sehen, ihren eigenen Ohren hören.

Er spielte auf der Saz, sang Volkslieder und tanzte bei Hochzei­ten mit ihnen Volkstänze, die er schon seit seiner Kindheit liebte.

Wenn er aus den umliegenden Dörfern zurückkam, schloß er sich zu Hause ein und war bis zum Morgengrauen im schwachen Eicht der Lampe mit Lesen beschäftigt. Wenn sich die Gelegenheit ergab, las er seinem Vater aus Romanen vor, die von revolutionä­ren Ereignissen in anderen Ländern erzählten.

In der Zeit um 1968-69 begannen bestimmte aktive Teile der po­litischen Jugend, Beziehungen zu Arbeiter- und Bauernkreisen zu knüpfen. Sie hatten bei Zwischenfällen erste Opfer. Von Tag zu Tag wütete der Faschismus stärker und mit immer neuen Metho­den. In solch einem Umfeld erreichten die Anstrengungen revolu­tionärer Organisationen neue Dimensionen; die fortschrittlich re­volutionären Kräfte vereinigten sich mit den aufkommenden Arbei­ter- und Bauernbewegungen.

Ibo war einer der Revolutionäre der vordersten Reihen bei Er­eignissen wie der Bewegung gegen die »6. Flotte*« der amerikani­schen Marine, die im Bosphoros vor Anker lag, und dem »Blutigen Sonntag*«, bei dem während einer revolutionären Kundgebung das Militär ein Massaker gegen das Volk verübte. Gleichzeitig war er einer der wenigen Revolutionäre, die in jener Zeit in Fabriken und Dörfern arbeiteten.

Um 1969-70 war Ibo schließlich nur noch selten bei der studen­tischen Jugend zu sehen. Meist schrieb er in der »Türk Solu Dergisi*« Nachrichten und Artikel über proletarische und bäuerli­che Aktivitäten und beteiligte sich immer wieder an Aktionen der Massen. Wenn er in der Redaktion saß, übernahm er jede Arbeit, die anlag. Er arbeitete freiwillig, hielt Wache, klebte Briefmarken und faltete Zeitschriften.

Der Schulverweis Ibos wurde vom Oberverwaltungsgericht als ungerechtfertigt wieder aufgehoben. Sie mußten die von der Schule geworfenen Studenten wieder aufnehmen. Die Schulleitung führte diesen Beschluß nur teilweise aus - neun der Studenten wurden wieder aufgenommen, Ibo nicht.

 

»...Mich leiten die Kämpfe

der Guerilla, Halsschlagader meines Volkes

eine gewaltige und ehrenhafte Leidenschaß ist die Beständigkeit

und nicht nur das

wie der Traum von der Geliebten ist sie auch...

zierend

fügsam

zart

wissend

wir, Meister der Heimat liehe,

Hoffnung

unsterbliche Flagge in unserem Versteck

rot in rot

Welle für Welle...«

A.Arif

1970 war ein Jahr, in dem viele junge Menschen ihr Leben gaben, ein Jahr, in dem sich die Revolutionäre mit aller Kraft gegen Ge­walt und Grausamkeit wehrten. Aber es zeichneten sich auch deut­licher Spaltungen in den Reihen der Linken ab. Ibo machte sich in dieser Zeit Gedanken über den Revisionismus und diskutierte mit seinen Freunden darüber. Er forderte sie auf, sich mit dem Revisionismus zu beschäftigen, ihn ebenso zu be­kämpfen, wie sie ihre Feinde bekämpften. Ibo wurde in dieser Zeit zweimal von der Polizei festgenommen und beide Male brutal zu­sammengeschlagen. Das eine Mal nahm man ihn in Untersu­chungshaft und hielt ihn fast einen Monat lang fest.

In diesem Jahr stärkte sich der Kampfwille der Bevölkerung, es gab sowohl auf dem Land als auch in den Städten, in Dörfern und auch Fabriken Massenaktionen.

So kam es zu dem Aufstand der armen Bauern von Degirmen-köy in Thrakien. Sie nahmen sich ihr Land zurück, das sich Groß­grundbesitzer angeeignet hatten. Ibo war dabei; zwischen den Bauern. Und noch ein unaufhaltsamer Revolutionär war dort zwischen den Revolutionären von Degirmenköy: Cihan Alptekin*.

Cihan und Ibo gaben hier ein herausragendes Beispiel für die Lenkung und Führung einer revolutionären Massenbewegung.

Die Bauern hörten den Regierungsbeamten nicht einmal zu, die gekommen waren, um sie umzustimmen und lange Reden zu hal­ten. Ibo und Cihan waren es, die auf dem Dorfplatz mit der Bevöl­kerung des Dorfes sprachen. Die Dörfler hatten beide als wahrhaf­te Freunde des Volkes erkannt und durch sie hatte sich ihr Vertrau­en und ihre Liebe zu den Revolutionären gefestigt. Die Regie­rungsbeamten wollten zunächst die beiden jungen Leute durch die Gendarmerie verhaften lassen. Doch mußten sie dieses Vorhaben aufgeben, als sie sahen, daß die Bauern sich auf Widerstand vorbe­reiteten und es deutlich wurde, daß sie solche Verhaftungen nicht zulassen würden. Die Bauern stellten sich in aller Öffentlichkeit auf die Seite der beiden jungen Leute und erklärten, daß sie sie nicht ausliefern würden.

Dann aber stellte man ihnen eine Falle. Sie nahmen Ibo und Ci­han fest. Sie folterten sie. Doch die beiden verließen die Folterkam­mer, in denen ihnen Brust und Arme gequetscht wurden, noch be­wußter als vorher ... Tag für Tag verstärkten sich die sozialen und ökonomischen Unruhen unter der Bevölkerung. Sie verwandelten sich zu einer demokratischen Massenbewegung. Der immer intensi­vere Kampf fand seinen Ausdruck am 15 bis 16. Juni"' auf den Stra­ßen Istanbuls.

An diesen Tagen, an denen immer wieder in allen Teilen der Stadt Massen von Menschen zusammenkamen, war Ibo zwischen den Arbeitern und einer von ihnen. Er hatte kleine Komitees einge­richtet; nachts druckte er bis zum Morgengrauen Flugblätter und war tagsüber auf den Straßen, dort, wo der Kampf am heftigsten war. Arm in Arm mit den Arbeitern überwand er die Barrikaden.

Sein monatelanges Zusammensein mit den Arbeitern sicherte ihm die Liebe und Anerkennung der engagiertesten Teile der Ar­beiterschaft. Hunderte kannten Ibo wie ihren eigenen Bruder. Die Arbeiter der Eisengießereien, Sungurlar, Horoz (civi, Pertriks, Ege Sanayi, EAS Akü, Gislaved, Gamak, Singer, Derby... Sie alle kannten diesen jungen Mann. In jeder bestreikten Fabrik war auch etwas von Ibos Energie wirksam.

Anfang 1971 besuchte er Corum und die umliegenden Dörfer. Er hatte vor, eine Untersuchung über diese Gegend und die Dörfer zu schreiben.

Seine Abfahrt nach Corum fiel in die Zeit, in der sich der Fa­schismus in der Türkei offen zu zeigen begann. Die Imperialisten waren entschlossen, den aufkommenden Kampf der Massen, die Unruhe, die sich in allen Kreisen der Bevölkerung ausgebreitet hat­te, mit Blut und Schüssen niederzuschlagen. So sollten gleichzeitig auch die fortschrittlichen Elemente der Gesellschaft aus dem Weg geschafft werden.

Die Faschisten krempelten die Ärmel hoch.

Der Ausnahmezustand* wurde ausgerufen.

Streiks in den Fabriken, Aktionen der Massen in den Dörfern, Zusammenkünfte, Demonstrationen - all dies wurde verboten. Fortschrittliche Zeitungen und demokratische Massenorganisatio­nen wurden geschlossen. Die Presse wurde mit Zensur belegt. Man blies zur Jagd auf Revolutionäre. Als erster Schritt wurden in den Wohnungen Tausender von Revolutionären und demokratischer Menschen Hausdurchsuchungen durchgeführt. Viele wurden ver­haftet. Andere ermordet. Angsthasen und Feiglinge zogen sich zu­rück. Schmerzhaft wurde deutlich, daß eine starke politische Mas­senorganisation fehlte.

Viele Revolutionäre verbargen sich in verschiedenen Gegenden Anatoliens.

Zusammen mit einem engen Freund hielt Ibo sich seit drei Mo­naten im Bezirk Corum auf. Nach dieser langen Arbeitsphase ver­faßte er eine Studie unter dem Titel »Eine Analyse der Klassen­struktur im Bezirk Corum«.

In diesem Gebiet, in das er sich mit der Ausrufung des Ausnah­mezustandes zurückgezogen hatte, lasen und arbeiteten er und sein Freund unentwegt. Gleichzeitig besuchten sie die Dörfer und erläu­terten die wirklichen Gründe für die Ereignisse, die sich im Land entwickelten. Von Zeit zu Zeit nahmen sie Kontakt zu Freunden in anderen Bezirken auf und tauschten Informationen aus. Ibo ent­wickelte einen neuen Vorschlag für eine Organisierung.

 

Später entschloß Ibo sich, diese Gegend wieder zu verlassen. An dem Tag, an dem er sich auf den Weg in einen anderen Teil Anato­liens machen wollte, war er in dem Haus seines Vaters. An den Füßen trug er Plastiksandalen, sein Aussehen war ärmlich und unter dem Arm hielt er ein Bündel.

»Ergib dich, mein Sohn!« versuchte AK Kaypakkaya Ibo zu überreden. »Du wirst noch zum Opfer ihrer Kugeln werden; wer ist nicht schon alles erschossen worden!« »Auch die Sterbenden sind deine Söhne«, antwortete Ibo und sagte seinem Vater, daß er wegen ihm nicht traurig sein sollte, daß ihm seine Verbindung zum Volk wichtiger sei als seine eigene Haut.

Einmal kam es Ali Kaypakkaya in den Sinn, Ibo festnehmen zu lassen, um sein Leben zu retten. Er wußte, wie draufgängerisch er war, wußte, wie viele ihm gegenüberstanden und zu welchen Me­thoden sie griffen. Aber Ibo würde sich bei einer Festnahme weh­ren. Dann wäre es, als hätte er seinen Sohn mit den eigenen Hän­den getötet. So gab er seinen Gedanken auf.

Als letztes vor dem Weggehen fragte Ibo seinen Vater nach einer Adresse. Wie immer war er entspannt und zu Scherzen aufgelegt. Als er merkte, daß sein abgemagertes Aussehen seinen Vater trau­rig stimmte, versuchte er ihn aufzuheitern und erzählte ihm einen Witz: »Ein Kommandant im Krieg sagte: Ach wäre ich doch eine Maus und könnte in jedes Loch kriechen!«.

Als Ibo gehen wollte, fragte sein Vater noch, ob er Geld bei sich hätte. »Ich hab soviel ich brauche«, antwortete Ibo. Die Antwort überzeugte den Vater nicht und er durchsuchte die Taschen seines Sohnes. Dabei fanden sich gerade eben 10 Lira. Ali Kaypakkaya lief sofort aus dem Haus und kehrte mit 100 Lira zurück, die er sich von Nachbarn geborgt hatte.

Ibo sah seinem Vater nachdenklich und traurig hinterher, dann verabschiedete er sich, trat über die Türschwelle und ging still da­von.

Nach seinem Verschwinden hielt Ibo sich bis zum 24. Januar 1973 zumeist in den Sommerlagern der Hochebenen und Dörfer der Kreise Silvan, Nazimiye und Kürecik, in den Bezirken Tunceli, Malatya und Antep, und auch in Haydaran, in Nurkaklar und in den Düzgün-Bergen auf. Ab und zu auch, war er in Ankara oder Istanbul.

Fast 24 Stunden am Tag zog er umher, redete, hörte zu, disku­tierte. Sein großes Ziel war, in organisierter Form die Sorgen des Volkes zum Ausdruck zu bringen. Die Genossen, die ihm am nächsten standen, beauftragte er mit Arbeiten in Anatolien, besonders im Südosten. Zur Auswahl und Schulung neuer Kräfte kam er hin und wieder nach Istanbul.

Nach einiger Zeit wählte er als Wohn- und Arbeitsgebiet für sich selbst den Bezirk Malatya. Monatelang leistete er hier Aufklärungs­arbeit in den Dörfern. Er legte besonderen Wert darauf, mit enga­gierten Teilen der Bevölkerung zusammenzukommen. Er zog um­her, kontrollierte die Arbeit der Genossen, die er in den verschiede­nen Gebieten eingesetzt hatte, hörte sich ihre Arbeitsberichte an und sagte ihnen, in welcher Richtung sie weiterarbeiten sollten.

Den Herbst dieses Jahres verbrachte Ibo in den Dörfern von Malatya.

Wenn es Abend wurde, machte er sich auf und besuchte Haus für Haus. Die Bauern erwärmten sich für den jungen Mann, der ih­nen voller Aufmerksamkeit zuhörte. Sie gewöhnten sich an ihn und sprachen lang und ausführlich mit ihm.

Mit größter Vorsicht begegnete Ibo reichen Dörflern, die sich revolutionär gaben. Wenn sie auf das Volk herabschauten, zeigte er sich ihnen gegenüber besonders abweisend.

Ibos Persönlichkeit und Benehmen waren natürlich und zeigten, daß er das Volk kannte.

Die Mittelständler im Dorf ließ er aus ihrem eigenen Leben er­zählen, wie sie Tag für Tag noch mehr verarmten, führte ihnen dann die Gründe dafür vor Augen und schulte sie. Mehr noch aber, baute er Beziehungen zu den armen Dörflern auf und ließ sich von ihnen berichten. Ihnen maß er am meisten Bedeutung zu; dem, was sie sagten, schenkte er am meisten Vertrauen.

 

»...Patrouillen auf den Straßen Neue Befehle für die Divisionen bezogen auf die Dörfer Paarweise Polizisten vor den Fabriken Neben Hunger Unterdrückung Finsternis eine neue Wunde: der VERRA T.«

N. Bebram

 

Unerschrocken und unermüdlich wanderte er in unwegsamem Gelände von Dorf zu Dorf. Den Bauern erzählte er mit Begeiste­rung von der Oktoberrevolution, von China, von Vietnam, erzählte ausführlich vom Leben und Kampf anderer Völker. Wie schon die Bewohner von Ibos Dorf, so hörten jetzt auch diese Bauern mit ganzem Herzen zu, ließen sich von der Begeisterung mitreißen und brannten danach darauf, ihm aus ihrem eigenen Le­ben zu erzählen.

Ibo ließ sich insbesondere von den Alten die Geschichte des Ge­bietes erzählen, von Aufständen und Sorgen, deren Wurzeln in alte Zeiten zurückreichten. Danach notierte er sich die erhaltenen In­formationen, um sie später in Aufsätzen über diese Gebiete zu ver­werten, in denen das wirklich Gelebte als Grundlage für die Ent­wicklung polioscher Lösungen dienen sollte.

Wo er auch hinkam, er interessierte sich selbst für die geringsten Probleme der Genossen, mit denen er zusammenarbeitete. Ihre Sorgen machte er sich zu eigen, und mit aller Kraft war er bemüht, Lösungen zu finden. Kritisierte er einen Genossen, so tat er dies mit Bedacht nach dem Prinzip „die Krankheit behandeln, um den Kranken zu retten" und versuchte Hindernisse aus dem Weg zu räumen, ohne jemanden zu verletzen.

Kollektive Arbeit war ihm wichtig. Neue Pläne, die er hatte, wandte er zuerst selber an. Immer wieder fragte er seine Genossen nach seinen Fehlern und legte großen Wert auf ihre Kritik. Sobald er sah, daß er bei einer Arbeit etwas falsch gemacht hatte, gab er es sofort in aller Offenheit zu und übte Selbstkritik, um nicht noch einmal in diese Verhaltensweise zurückzufallen. Auf keinen Fall ließ er sich von kleinbürgerlicher Empfindsamkeit leiten, wenn sei­ne Genossen ihn kritisierten.

Diese Tugenden, die er sich anerzogen hatte, erwartete er auch von den Menschen um ihn herum. Wenn einer seiner Genossen sich kleinbürgerlich verhielt, seinen Stolz nicht unterdrücken konn­te und sich einer Selbstkritik entzog, so beschimpfte Ibo ihn nicht, sondern brachte ihn meisterhaft dazu, sich zu schämen, ohne daß er ihn verletzte.

Seine Persönlichkeit und seine Gedanken entwickelten sich in den Beziehungen zur Bevölkerung. Ihn ekelte die Besserwisserei der Intellektuellen bis zum Erbrechen, ihre passive Geschwätzig­keit, ihre Gebundenheit und Kühle, die keine Begeisterung kannte, ihre Unentschlossenheit und Schwerfälligkeit. Alles an ihm selbst war natürlich wie ein Zweig, ein Gebirgsbach. Insbesondere die letzten Monate seines Lebens festigten in ihm die vom Volk stam­menden Tugenden.

Innerhalb kurzer Zeit hatte er gelernt, sich recht und schlecht auf kurdisch zu verständigen. Trotzdem nahm er, wenn er über die Dörfer zog, einen Genossen mit, der gut kurdisch sprach. Einem ärmlichen Haus näherte er sich mit einer Wärme, als sei es sein ei­genes, grüßte schon von weitem, und noch bevor die Tür geöffnet wurde, war zwischen Ibo und den Bewohnern eine Nähe herge­stellt.

Unmerklich brachte er das Gespräch auf die politischen Hinter­gründe der Probleme. Und er klärte sie über ihren Hunger, ihre Blöße, ihre Armut so auf, daß seine Worte ihnen unvergeßlich in den Gedanken blieben.

Die Bauern, die im allgemeinen gewohnt waren, früh schlafen zu gehen, vergaßen, wenn Ibo bei ihnen weilte, was Müdigkeit bedeu­tete. Als würde ein von Vätern ererbtes Gefühl in ihnen knistern. Sie wurden mutig, wütend, ungeduldig.

Ibo legte besonderen Wert darauf, daß seine Freunde bei Aktio­nen selbst die Initiative ergriffen. Ging er in irgendein Gebiet, um die Arbeiten dort zu verfolgen, so diskutierte er die richtigen und die problematischen Seiten der Aktionen. Immer war er noch offen für Veränderungen, die durch die Praxis entstehen konnten und zog für weitere Aktionen Lehren aus unerwarteten positiven und negativen Folgen.

Unter den fortschrittlichen Kreisen im Bezirk Malatya baute er innerhalb kurzer Zeit Lesegruppen auf, wo er die meiste Zeit ver­brachte.


Es war das Jahr, als in der Türkei ein Revolutionär nach dem an­deren getötet wurde und die Folter im ganzen Land Terror verbrei­tete. Tausende von Menschen wurden aufgrund ihrer Gedanken verurteilt. Der staatliche Terror lauerte hinter jeder Tür, hinter je­der Straßenecke. Angst und Wankelmut kamen auf, auch in den Reihen der Linken gab es Umfaller.

Sie, die sich für Wankelmut, Duckmäusertum und Aufgabe ent­schieden, nahmen ihren Platz in der Gegenbewegung ein. Sie schauten darüber hinweg, daß sich über dem Volk eine schwere Last zusammenzog, sahen nicht die Blutsauger der Unterdrückung in den Adern des Volkes. Über ihre Selbstaufgabe hinaus begannen sie auch noch unter dem Namen einer »Kritik an den Fehlern« eine niedrige Schmutzkampagne gegen den revolutionären Kampf. Sie brachten durcheinander, was zu verteidigen und was zu kritisieren war. Sie griffen mit den Mikrofonen der Konterrevolutionäre die grundlegenden revolutionären Tugenden hinterhältig an. Und so begingen sie Sünden, um sie gleichzeitig zu beichten!

Es gab aber auch viele, die Widerstand leisteten, die ihren Kopf nicht beugten, die mit Geduld und Entschiedenheit die Folgen auf sich nahmen ...


Daran mußte Ibo denken, als er in den Zeitungen auf die Fotos von Omer Ayna* schaute, der die Folterkammern der Ausnahme­zustandskommandanturen durchlaufen hatte. Was in Ömers Blik-ken geblieben war, empfand Ibo wie einen heißen Gruß. »Eine der ersten Bedingungen revolutionären Verhaltens ist es, die Folter aus­zuhalten«, sagte er zu seinen Freunden und forderte sie auf, sich ein Beispiel an Omer zu nehmen.

Ömers Blicke aus den Folterkammern hatten die Begeisterung und Erregung in Ibos Herzen getroffen.

»Wir dürfen nicht bis zur Folter warten«, sagte er zu seinen Ge­nossen. »Wir müssen leben, als würde sie in jedem Moment ange­wandt werden, so können wir sie von vornherein besiegen...!«

 

Und dieses Bewußtsein war in jedem Moment seines Lebens wirksam.

Eines Tages wollten Ibo und zwei seiner Freunde aus ihrem Ge­biet in ein anderes überwechseln Sie waren zu dritt. Sie zogen aus dem Tal herauf. Je höher sie kletterten, desto mehr stellten Schnee und Wind sich ihnen in den Weg. Schließlich wurde der Berg un­überwindlich. Stundenlang kämpften sie. In der rabenschwarzen Dunkelheit konnten die Lampen in ihren Händen gerade drei Schritte gegen den gewaltigen Schneesturm anleuchten. Von wei­tem hörte man Wolfsgeheul. Mit den Fingern am Abzug kletterten sie stundenlang am Rand bodenloser Abgründe, am Fuß schroffer Felsen. Dann begann der Abstieg. Ihre Gesichter waren vereist. Nach einem endlos langen Abstieg erschienen in der Ferne die Lichter des Dorfes. Als sie sich dem Dorf zuwandten, bemerkten sie, daß sie an dem gleichen Abhang standen, von dem aus sie Stun­den vorher aufgestiegen waren.

Die Genossen schlugen Ibo vor, nicht gleich wieder loszuziehen. Doch Ibo gab mit einer Stimme, in der Entschiedenheit und Schär­fe lag, den Befehl, sich wieder auf den Weg zu machen. Gegen Morgen erreichten sie die Genossen auf der anderen Seite des Ber­ges ...


Ibo pflegte zu sagen, daß »Durchhaltekraft und Entschiedenheit eine wichtige Grundlage für den Sieg« seien. Beispiele, Schwierig­keiten zu begegnen, lieferte er selbst. Seine Geduld und Zähigkeit und sein monatelanges Leben in den Widrigkeiten der Natur ließen Ibo zu einem Teil der Natur werden.

Eines Tages hatten sie sich auf den Weg in einen anderen Bezirk gemacht. Nachdem sie den ganzen Tag in unwirtlichem Gelände gelaufen waren, begannen sie sich nach einem Platz für die Nacht umzusehen. Zwischen den Felsen des Berghanges fanden sie eine kleine Höhle. Sie war sehr eng, und man konnte nur schwer hinein­gelangen, aber sie mußten sich vor Wind und Regen schützen. Die Freunde schlugen Ibo vor, einen anderen Platz zu suchen, doch Ibo war schon in die Höhle hineingekrochen und hatte begonnen zu arbeiten. In kurzer Zeit weitete er die Höhle. In dieser Nacht hat­ten sie alle Platz.


In dem Gebiet hatte sich der Winter von den Bergspitzen bis tief in die Ebenen ausgedehnt. Nachdem Mahir und die anderen* ausdem Gefängnis von Maltepe geflüchtet waren, verstärkten sich die Sucharbeiten der Sicherheitskräfte. An Straßenkreuzungen auf dem Weg von Antep nach Malatya waren Kontrollen aufgebaut. Ibo je­doch ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und zog gleichmütig vorbei.


Mit Sandalen an den Füßen, einem alten Mantel über dem Rükken, seiner Schlägermütze und der für diese Gegend typischen Ho­se hatte er das Aussehen eines hart arbeitenden bäuerlichen Prole­tariers. Ibo verlor bei Durchsuchungen nie seine Kaltblütigkeit. Zu­meist erregte er sowieso keine Aufmerksamkeit, wenn er an Kon­trollpunkten vorbeikam.

 

Nach einer langen Zeit im Bezirk Malatya zog er in andere Ge­genden, wo er die Notizen, die er sich gemacht hatte, in eine Studie mit dem Titel »Eine Analyse der Klassen in Malatya« zusammen­faßte.

 

 

».. .Natürlich haben sie etwas zu sagen

Die kurdischen Frauen, die einem Flüchtling Tee reichen

Stumm und schroff sind die Berge

Doch der Tag wird kommen, da werden auch sie etwas zu sagen

haben

und wenn sie einmal anfangen zu reden, die Berge, die

menschenleeren Ebenen,

Dann vestummen sie nicht mehr, dann werden sie das Wort

haben...«

A. Behramoglu

Eine Weile später kehrte er zusammen mit Bora Gözen* nach Malatya zurück. Bora war zu dieser Zeit schwer krank; er hatte Gelbsucht. Ibo brachte ihn bei Freunden unter und zog nach Tunceli weiter. (Als seine Krankheit sich zum Besseren wendete, verließ Bora den Bezirk Malatya und ging nach Palästina. Don wurde er während eines Übergriffs der Israelis zusammen mit einer Gruppe türkischer Revolutionäre durch israelische Einheiten getötet...) Ibo blieb nur kurz in Tunceli, ließ sich die Berichte über die Arbei­ten in den Bezirken vorlegen und fuhr weiter nach Istanbul. Dort wertete er die Berichte aus und verarbeitete einige zu Aufsätzen.

Als Freunde, die zur Ausbildung nach Palästina gegangen waren, nach Malatya zurückkehrten, zog auch Ibo wieder dorthin.

Inzwischen kannten ihn weite Kreise der Bevölkerung in diesem Gebiet - wenn auch nicht mit seinen wirklichen Namen - und lieb­ten ihn von Herzen.

Oft sagte er seinen Freunden, daß sie ihre Beziehungen zu Men­schen, zu denen, die sie liebten, nicht vernachlässigen dürften. So­weit möglich versuchte er, gegenüber den Schönheiten der Natur und in den Beziehungen zu Menschen nicht zu verhärten. Er er­zählte von der Liebe, die er seiner alten und armen Amme gegen­über empfand, von der Sehnsucht, die er nach ihr hatte, und von der Achtung, die er seinem Vater entgegenbrachte. Seinen Ausweis, der auf den Namen >Ibrahim Kaypakkaya< ausgestellt war, hatte er schon längst zerrissen und weggeworfen. Er besaß jetzt einen ande­ren Ausweis, und nur wenige Genossen um ihn herum kannten ihn als >Ibrahim<.

Die große Bedeutung, die er den Beziehungen zu Menschen bei­maß, war ein wichtiger Grund, warum er von der Dorfbevölkerung so anerkannt wurde. Diese Menschen, denen er immer zu helfen bereit war, würden auch ihm beistehen, wenn er in Bedrängnis kä­me.

Eines Tages waren sie gegen Morgen in ein Dorf gekommen, in einem Haus aufgenommen worden und hatten sich zum Ausruhen zurückgezogen. Sie waren gerade eingeschlafen, da wurden sie plötzlich durch lautes Geschrei geweckt. »Das Dorf wird überfal­len«, schrie die Frau des Hauses auf kurdisch. Ibo und seine beiden Genossen verließen das Haus durch die Hintertür und verschwan­den in Richtung der Berge. Ibo beruhigte seine Genossen mit ei­nem Lied, das er zu ihren schnellen Schritten sang, und machte ih­nen Mut. Wie sonst auch ließe er die Gefahr hinter sich, indem er den Menschen um sich herum Kraft gab und selbst nicht die ge­ringste Spur von Furcht aufkommen ließ.

Wenn er sprach, so konnte man schon seiner Stimme seinen fe­sten Glauben an ihre Sache anmerken. Sprach er von den Feinden des Volkes, brannte sie wie ein Vulkan, sprach er von der Liebe und der Sehnsucht, wurde sie sanft.

Ergab sich zwischen seinen Arbeiten freie Zeit, so nahm er sein kleines Heft und zog sich entweder in eine Ecke zurück oder klet­terte auf einen Felsen und setzte sich. Dort machte er sich Notizen und entwickelte neue Ideen. Manchmal schrieb er auch kurze Kampfgedichte und las sie seinen Freunden vor.

Ein Gedicht von Ibo lautete so:

Für die gefallenen Genossen

Ihr, die Ihr euer Leben gegeben habt für unser Volk

Ihr, die ihr alles gegeben habt im Namen dieses Kampfes,

Ihr seid es, die der Fahne des Kampfes die rote Farbe gegeben habt,

die ehrenvoll in unserer Brust weht

 

Ey ihr, die ihr für unser unsterbliches Volk gefallen seid

Ey ihr, erhabene Söhne unseres Volkes

Hört  jetzt, stolz und geduldig;

Eure Genossen fuhren ihn weiter, euren Kampf...

Es war noch im Monat Mai, der zwölfte Tag, nachdem Deniz und die anderen* ihr Leben am Galgen gegeben hatten. Die Nachricht ihrer Hinrichtung kam aus Ankara. Die letzten Mo­mente von Deniz, Yusuf und Hüseyin* hatten sich in Ibos Brust festgesetzt und dort eine Weite, eine seltsame Melancholie und Wut hinterlassen...

Ibo bereitete in diesen Tagen die Durchführung eines Plans vor, der ihn schon seit längerer Zeit bewegte.

In einer solchen Jahreszeit waren in diesem Gebiet einige jun­ge Leute, die zu THKO* gehörten, von den Sicherheitskräften aufgegriffen worden. Im Schußwechsel starben Sinan Cemgil*, Kadir Manga und Alparslan Özdogan.

Ibo hatte danach eine Untersuchung in den Dörfern der Um­gebung durchgeführt und sich über das Ereignis, das sich in der Gegend des Dorfes Inekli abgespielt hatte, Informationen bei Dorfbewohnern eingeholt.

Dann hatte er sich einige Notizen gemacht: „Mustafa Mar-deniz, Dorfvorsteher von Kähyali im Kreis Kürecik von Akcadag in Malatya".

Ibo sagte, daß Mustafa Mardeniz ein Spitzel sei. Nach einer langen Vorbereitungszeit legten er und sein Freund einen Hin­terhalt und nahmen den Dorfvorsteher fest. Sie brachten ihn in eine Höhle, die sie vorher ausfindig gemacht hatten, verhörten ihn dort und erschossen ihn später...

Danach verließ Ibo den Bezirk wieder für eine Weile und zog nach Tunceli. Aus den Haydaran-Bergen kamen auch Ali Hay-dar Yildiz und Muzaffer dorthin. Sie trafen sich und kehrten zu den Sommerlagern in den Hochebenen der Haydaran-Berge zu­rück.

Hier erklärte Ibo ihnen den Vorfall mit dem Dorfvorsteher Mustafa Mordeniz:

»Bis jetzt haben die Faschisten in unserem Land nahezu 100 Revolutionäre umgebracht. Die meisten von ihnen haben sich leidenschaftlich gewehrt und sich für den Befreiungskampf des Volkes hingegeben. Das Blut dieser Kinder hat den Groll unseres Volkes gegen die Tyrannei anwachsen lassen.

Unsere Aufgabe im Leben ist es, den mutigen und entschiedenen Kampf unserer Genossen und aller patriotischen Menschen fortzu­führen.

Heute ist es das erklärte Ziel der Faschisten, die organisierten Kräfte unseres Volkes in Blut und Feuer zu ersticken. Um dieses Ziel zu erreichen, setzen sie alle möglichen Mittel ein. Sie benut­zen das Elend des Volkes; mit Geldversprechen ermuntern sie reaktionäre Elemente, die ihr Gewissen und ihre Würde für Münzen hingeben, um Spitzeldienste zu verrichten.

Sie haben versucht, die revolutionäre Gruppe um Sinan Cemgil mit Hilfe solcher Spitzel zu vernichten, doch es ist ihnen nicht ganz gelungen. Die Gruppe hat sich mit ihrer geringen Kraft in den Göl-baji-Bergen heldenhaft gewehrt.

Um das Volk einzuschüchtern, haben die Faschisten ihre Leichname entkleidet und nach Gölbasi geschafft. Die bourgeoise Presse ist ihrem Geschäft mit Fotos nachgekommen. Einige Tage später wurden die Spitzel und die Angreifer mit Geld be­lohnt. Doch die Waffe in der Hand der Faschisten hat sich ge­gen sie selbst gewendet. Das schwergeprüfte Volk der Türkei, allen voran die Bewohner jener Gegend, haben diese Bluttat ver­achtet.

Da ich in dieser Gegend arbeitete, habe ich die Reaktion des Volkes aus der Nähe miterlebt. Das Volk wollte, daß die Tyran­nen und diejenigen, die sich zu ihrem Werkzeug machten, bestraft wurden.

Ich beschloß, dem Willen des Volkes nachzukommen, und nahm deshalb die Bestrafung des Dorfvorsteher-Spitzels, der in erster Linie für die Bluttat verantwortlich war, in meine eigenen Hände.

Mitte Mai informierte uns das Volk, daß der Spitzel versuche, sich zum Herrscher im Gebiet aufzuspielen, daß er anstrebe, sich Helfer zu mieten und andere schmutzige Geschäfte plante.

Wir stellen fest, daß der Dorfvorsteher-Spitzel

 

 1.  nicht aus  Überzeugung,  sondern  für Geld  Hauptverant­wortlicher für den Tod dreier Revolutionäre war,

2.  um persönliche Rachegelüste zu befriedigen, die unwahre Be­hauptung aufgestellt hat, daß einige Dorfbewohner Beziehungen zu den Revolutionären unterhielten.

3.  in Cafes und auf den Straßen die Revolution und die Märtyrer der Revolution offen beschimpft hat und Dorfbewohner, die ihn daraufhin ermahnte, drohte, sie anzuzeigen...«

Ibo sagte, daß sie - wie auch aus den Gerichtsakten zu erse­hen ist - den Dorfvorsteher Mardeniz aus den angeführten Gründen bestraft und dies den Bewohnern des Gebietes erklärt hätten.

Ibo hielt sich einige Zeit für Ausbildungsarbeiten auf den Hoch­ebenen von Haydaran im Bezirk Tunceli auf. Er diskutierte mit sei­nen Genossen über neue Pläne, hörte sich ihre Kritik an, machte sich Notizen.

Zur gleichen Zeit durchsuchten Sicherheitskräfte, die gehört hatten, daß Ibo und seine Freunde sich in dem Bezirk aufhielten, Dorf für Dorf, Stein für Stein. Alles wurde überfallen, schon bei dem geringsten Verdacht führten sie mit allen möglichen Metho­den Befragungen durch. Nicht wenige Menschen wurden bei diesen Überfällen als »verdächtig« eingestuft und mitgenommen. Keiner wußte, wohin diese Menschen kamen und wann sie zurück­gebracht werden würden.

Der Oberleutnant Fehmi, der davon redete, daß ein Mitglied sei­ner Familie beim Aufstand von Dersim von den Aufständischen* ermordet worden sei, hegte nicht die geringsten wohlwollenden Gefühle für die Bewohner des Gebietes. Die Methoden, die er an­wendete, machten ihn innerhalb kurzer Zeit »berühmt«. Er bekam den Namen »Menschenjäger«.

Hatte er irgendeine Spur der Revolutionäre gefunden, so stellte er in den Häusern der Gegend alles auf den Kopf und füllte die Zellen der Polizei mit Menschen.

Oberleutnant Fehmi und seine rund 260 Soldaten zählende Truppe bedrohten im Bezirk Tunceli selbst die Luft zum Atmen. Ein Lächeln, eine Freundschaft, eine Nachricht, ein Gast, ein Brief - über alles mußte Rechenschaft abgelegt werden.

In den Straßen von Tunceli ließen sie Parolen wie »Führer« oder »Nieder mit den Kommunisten« an die Wände schmieren, auf den Polizeirevieren wüteten Prügel, Bastonade und jegliche Art von Folter. Hunderte von Dorfbewohnern wurden verhört.

Ibo war mit einer Gruppe von Freunden in diesem Gebiet. Sie hatten >Drohaktionen< gegen einige Großgrundbesitzer durchge­führt, von denen die ärmere Bevölkerung tyrannisiert wurde. Diese Aktionen sprachen sich gleich herum, man flüsterte sie von Ohr zu Ohr. So waren sie von einer Woge von Sympathie umgeben.

Man sprach sogar davon, daß in das Quartier von Oberleutnant Fehmi eine »Warnbombe« geworfen worden sei.

 



Die Suchtrupps in dem Bezirk Tunceli wurden verstärkt. Die Unterdrückungsmaßnahmen weiteten sich noch mehr aus und wur­den immer intensiver.

 

»Das einzige Liebt,

das uns weckte,

war diees Licht auf dieser Welt! Ich betrat ihr Haus,

sie saßen am gedeckten Tisch, waren zurückgekehrt,

ohne zu arbeiten,lachten oder weinten,

ähnelten alle einander drehten den Blick zum Licht suchten nach ihren Wegen...

« P.Neruda

 

Ibo kehrte zwischendurch zurück nach Istanbul. Dann fuhr er kurz nach Malatya und weiter nach Tunceli. Von dort aus zog er in die Düzgün Berge. Den Freunden dort brachte er verschiedene Veröffentlichungen, Nachrichten, Landkarten und Ausrüstungen mit. Er wollte, daß seine Freunde noch aktiver wurden. Sie disku­tierten eine Zeitlang über allgemeine Probleme, und Ibo übermittel­te ihnen Nachrichten aus anderen Gebieten.

Da er seit Monaten umherzog, kannte er inzwischen einen gro­ßen Teil Anatoliens von Flußufern zu Berghängen, von Wäldern zu Dörfern, von Quellen bis zu den Abhängen wie seine eigene Hand.

Ibo konnte meisterhaft einen Ort finden, den er suchte. Wenn er eine Adresse beschrieb, war er penibel wie ein Zeichner. Wer von Ibo eine Wegbeschreibung bekommen hatte, konnte sicher sein, daß er den gesuchten Ort auf dem direktesten und sichersten Weg finden würde. Wenn er selber einen Ort suchte, fand er ihn mit ver­blüffender Sicherheit.

Einmal suchte er nach einer Gruppe von Freunden, hatte zwar das Gebiet, in dem sie sich aufhielten, herausgefunden, nicht aber den Ort, wo sie lagerten. Er kam in das Dorf, fragte nach kurzer Plauderei einige Dorfbewohner, denen er vertraute.

 

Man gab ihm keine Antwort. Sie wüßten von niemanden, sagten die Dorfbewohner. Aber Ibo ließ nicht locker. »Bindet mich fest, sagt ihnen Bescheid, und wenn sie mich nicht kennen, dann tötet mich!«, sagt er. Aber einer der Dorfbewohner hatte den jungen Leuten, die sich in einer Höhle versteckt hielten, Bescheid gegeben. Ihnen war sofort klar, daß es Ibo war, der nach ihnen suchte.

So freuten sich auch die Dorfbewohner, daß Ibo seine Freunde gefunden hatte. Ibo sprach ihnen ein großes Lob dafür aus, daß sie einem Unbekannten nichts preisgegeben hatten und baute eine freundschaftliche Beziehung zu ihnen auf.

In den Dörfern, in denen er sich aufhielt, beschäftigte er sich be­sonders mit den Kindern; freundete sich mit ihnen an, spielte mit ihnen. Auch die Kinder gewöhnten sich sofort an Ibo und riefen »Ez ji devrimcime!« (Ich bin auch ein Revolutionär!) hinter ihm her, wenn er ging.

Ibo sagte immer: »Die Zukunft der Türkei hängt von unserem Kampf ab. Vielleicht wird es uns nicht mehr geben, aber diesen Kampf wird man niemals vergessen können!«

Wie früher half er den Dorfbewohnern bei allen möglichen Ar­beiten, wenn er in einem Dorf war. Besonders die Arbeit mit der Sense beherrschte er meisterhaft. Dabei war in dieser Gegend die Sense nicht sehr verbreitet. Auf den bergigen Feldern benutzte man eher eine Sichel. Die Dorfbewohner schauten staunend zu, wie Ibo rasch und unermüdlich mit der Sense arbeitete.

In einem anderen Dorf führte er ein Werkzeug ein, das bis dahin unbekannt gewesen war.

»Ayakfak« (Fußhebel) hieß dieses Gerät. Er fertigte es aus Gras, schnallte es sich an den Fuß und schob damit den Weizen zu gro­ßen Bündeln zusammen. Die Dorfbewohner waren über dieses neue Gerät erstaunt und erfreut, sie umarmten Ibo, machten mit ihm Spaße darüber und machten sich daran, für jeden von ihnen ein »Ayakcak« anzufertigen, das eine Besonderheit mittelanatolischer Dörfer ist.

In einem anderen Dorf hatten sie sich nach einem langen und er­müdenden Arbeitstag in einem der ärmlicheren Häuser zum Essen niedergesetzt. Ibo und seine Freunde hatten seit längerer Zeit nur Brot und Käse gehabt. Jetzt stand heißes und gekochtes Essen auf dem Tisch und ließ ihnen das Wasser im Munde zusammenlaufen.

 

Kurz bevor sie anfingen zu essen, beugte Ibo sich zu seinen Freun­den und sagte: »In diesen armen Haushalten kommt meistens alles auf den Tisch, was zubereitet worden ist; eßt bloß nicht alles auf, denn was wir übrig lassen, ist für sie; und wenn wir alles aufessen, denken sie auch noch, daß sie uns nicht satt bekommen haben und werden traurig ...«

In diesen Tagen verstärkten die Sicherheitskräfte ihren Druck und verengten immer weiter den Kreis um den Bezirk. Keine der Spuren, die der Oberleutnant Fehmi bis zu dem Tag verfolgt hatte, hatte aber bisher zu einem Ergebnis geführt. Die Dorfbewohner versteckten Ibo und All Haydar unter ärmlicher Kleidung und teil­ten Ihre Nahrungsmittel mit ihnen.

Die, die sie suchten, begannen jetzt, eine neue Taktik zu verfol­gen. Personen in ziviler Kleidung und mit einem »revolutionären« Aussehen, gingen bei Anbruch der Dunkelheit in die Dörfer. Sie klopften bei ärmeren Leuten an die Tür und baten um Einlaß: »Macht auf, wir sind Revolutionäre; wir möchten eine Nacht blei­ben und gehen dann wieder!« Je nachdem, wie sie sich diesen Per­sonen gegenüber verhielten, wurden die Bewohner dann traktiert. Es war nie klar, was wem wann zustoßen konnte.

Am 13. 1. 1973 zogen die Sicherheitskräfte in Richtung auf das Dorf Bostanlar von Nazimiye, nachdem sie einen Hinweis bekom­men hatten, daß Ibo und seine Freunde sich dort aufhielten. In dem Bericht von Oberleutnant Fehmi über diese »Operation« wur­de darüber folgendermaßen berichtet: »Sofort stellte ich einen Ver­folgungstrupp zusammen, der unter meinem Kommando loszog. Zusätzlich wurde die Einheit noch um einen Polizeibeamten erwei­tert. Wir kamen zu dem Ort, der uns beschrieben worden war; un­glücklicherweise vereitelte ein Schuß, den der Polizeibeamte aus Unachtsamkeit abfeuerte, unser Unternehmen. Wir kehrten ohne Ergebnis zurück ...«

In Wirklichkeit gab es ein »Ergebnis«. Man flüsterte sich von Ohr zu Ohr, was im Dorf Bostanlar von Nazimiye vorgefallen war: Ein in Zivil gekleideter Polizeibeamter hatte an die Tür des armen Bauern Süleyman Nakis geklopft und gesagt: »Macht auf, ich bin Revolutionär, ich bin allein zurückgeblieben!« Und schon war das Haus umzingelt, und die »Unachtsamkeit«, von der der Oberleut­nant gesprochen hatte, passierte:

Die Kugel, die der Beamte abgefeuert hatte, fügte Süleyman Nakis eine schwere Rückenverletzung zu und durchschlug dann den Kopf seiner vierjährigen Tochter von hinten. Die Frau von Süley­man Nakis, floh voller Angst und Verwirrung in die Berge und ent­kam gerade noch dem Kältetod.

 

Gab es nun den Ausnahmezustand per Gesetz in dieser Gegend? Darüber nachzudenken, schon das stand niemandem zu. Nach den offiziellen Verlautbarungen, gab es in diesem Bezirk keinen Aus­nahmezustand. Die Praxis aber sah anders aus. Die Unterdrückung wurde von Tag zu Tag schärfer. Die einzigen in der Gegend, die aus dem Zustand Profit zogen, waren die Großgrundbesitzer. Für die ärmere Bevölkerung kam eins zum anderen. Nicht nur die Re­volutionäre, sondern alle, die sich den Revolutionären auf die eine oder andere Art verbunden fühlten oder Sympathie zeigten, wur­den in unvorstellbarer Art und Weise behandelt.

 

Ibo war gegen Mitte Dezember durch Tunceli gezogen und hat­te sich in den Düzgün-Bergen mit seinen Freunden aus dem Gebiet getroffen. Ausführlich sprach er mit ihnen über die Lage. Entspre­chend den Arbeitsberichten der Freunde wurden Entscheidungen gefällt. Eine und die wichtigste davon war, »die Unterdrückung und Tyrannei gegen das arme Volk von Tunceli anzuprangern«.

»Wir müssen aktiver und dynamischer werden, wir müssen uns der Unterdrückung des Volkes mit ganzer Kraft entgegenstellen; vielleicht sind unsere Kräfte zu gering und wir zerbrechen. Doch gegenüber dem Wehklagen des Volkes kann ein Revolutionär nicht stumm bleiben!«, sagte Ibo.

Die Härte der Maßnahmen in Tunceli stellte alles andere in den Schatten. Folter und Schläge gehörten zum Alltag der Bevölkerung. Es kam so weit, daß ein aus der Haft Entlassener mit den Spuren schwerer Folter auf seinem Körper sich an die Gesundheitsbehörde wandte, um die Tyrannei mit einem Gutachten belegen zu lassen. Man munkelte, daß daraufhin die Staatsanwaltschaft eine Untersu­chung gegen den Polizeipräsidenten von Tunceli und den Leutnant der Gendarmerie eingeleitet habe.

 

Nachrichten über Unterdrückung und Terror, denen das Volk ausgesetzt war, sickerten trotz der Zensur des Ausnahmezustandes bis in die Hauptstadt durch und wurden zum Thema im Parlament.

Im Juli 1973 forderte H. Yenipazar, Tunceli-Abgeordneter im Parlament, in seiner Parlamentsrede die Versetzung des Polizeiprä­sidenten sowie des Gendarmerieleutnants aus diesem Gebiet: »Ge­gen diese beiden Personen müssen rechtliche Mittel angewandt werden. Ihr Verhalten im Amt basiert auf nichts anderem als völli­ger Willkür!«, waren seine Worte.

 

Tunceli war nahezu umzingelt von Militärkommandos. Durch die Straßen der Stadt exerzierten und liefen sie mit nacktem Ober­körper und sangen Märsche wie »Die Kommandos haben die Ber­ge umzingelt, jetzt sind sie dran!«

Im wahrsten Sinne des Wortes wehte der Wind des Terrors durch die Stadt.

Ali Haydar Yildiz hatte freiwillig übernommen, »die Unterdrük-kung anzuprangern«. Er stieg am 2. Januar um Mitternacht von den Bergen nach Tunceli hinunter und legte Bomben in das Poli­zeiamt und die Quartiere ...

Danach verwischten sie ihre Spuren in den Hängen der Düzgün-Berge. Nachdem sie sich einige Zeit versteckt gehalten hatten, zo­gen sich Ibo, Ali Haydar und Hüseyin nach Nazimiye zurück, während Muzaffer und Süleyman zu den Haydaran-Dörfern gin­gen.

Bevor sie sich trennten, einigten sie sich auf eine einsame Scheu­ne nahe Mirik bei Vartinik als Treffpunkt.

 

 

 

»...Den Todesbefehl führten sie aus

In Blut tauchten sie

den blauen Dunst des Berges

und den eben erwachenden Wind der Morgendämmerung

Dann stellten sie die Gewehre zur Seite

untersuchten vorsichtig unsere Brust

prüften ihr Werk...«

A.Arif

 

Nachdem Süleyman und Muzaffer 15 Tage in den Haydaran-Dörfern geblieben waren, nahmen sie ausreichend Magerkäse (Cö-kelek) mit und zogen zur Scheune bei Vartinik. Ibo und Haydar-waren in den Dörfern von Karakocan. Sie spra­chen mit den Dorfbewohnern der Gegend, hörten sich ihre Sorgen an.

Die Dörfler hatten sich bei diesen zwei jungen Leuten beklagt, hatten von einem Unteroffizier dieser Gegend erzählt, der unvor­stellbar folterte und die Menschen quälte.

»Er rupft den Alten die Barte aus, er plündert uns aus, wer ihm kein Schmiergeld gibt, den schlägt er; er belästigt unsere Bräute und unsere Töchter...«, sagten sie.

Die armen Dörfler erhofften sich Hilfe von den jungen Leuten, die von den Bergen gekommen waren. Ali Haydar und Ibo jagten diesem Unteroffizier, der den Dörflern ein Dorn im Auge war, ei­nen gehörigen Schrecken ein. Er verschwand, und die Dorfbewoh­ner konnten Luft holen.

Vier bis fünf Tage später kam Ibo mit Ali Haydar und Hüseyin zu der Scheune bei Vartinik. Sie entschieden, sich eine Zeitlang hier versteckt zu halten. Am folgenden Tag verließen Süleyman und Ali Haydar die Scheune, um Brot und andere Nahrungsmittel zu be­sorgen. Gegen Abend wollten sie zurückgekehrt sein. Der Tag ging vorbei, der Abend brach an. Dunkelheit senkte sich herab, es wurde spät...

 

Ibo, Muzaffer und Hüseyin teilten die Wache im Zweistunden-takt. Ibo hielt die erste Wache. Dann stand Muzaffer auf. Nach weiteren zwei Stunden trat Hüseyin seine Wache an.

Da die Wege völlig zugeschneit und unbegehbar waren, verspä­tete sich die Rückkehr von Ali Haydar und Süleyman. Erst gegen Morgen kamen sie bei der Scheune an. Von nicht allzuweit pfiffen sie die Parole. Keine Antwort aus der Scheune. Ali Haydar wieder­holte die Parole. Wieder kam nichts. Als sie von der anderen Seite nichts hörten, wurden sie mißtrauisch und begannen, die Umge­bung zu untersuchen. Sie sahen Gendarmerie — die Scheune war umzingelt.

Die Dunkelheit hatte sich noch nicht gelichtet, der Tag sich noch nicht von der Nacht gelöst. Es war der neblige Morgen des 24. Januar 1973.

Ali Haydar und Süleyman eilten auf die Scheune zu. Ali Haydar trat als erster ein. Die Freunde schliefen, und er weckte sie. Sie flo­hen, Ali Haydar sprang als letzter hinaus.

Die Sicherheitskräfte hatten das Feuer eröffnet. Ali Haydar schleuderte die Handgranate, die er in der Hand hatte, in Richtung der Angreifer und schoß.

Er mußte zuerst über den Erdwall, der um die Scheune herum lag. Er kauerte sich zusammen, sprang dann vor. Gerade war er über den Wall, da traf ihn das Feuer. Es traf ihn im Sprung, in der Luft, er fiel...

Die Angreifer hatten sie in einem Halbkreis umstellt. Der Be­fehlshabende war Oberleutnant Fehmi. Sie belagerten die Scheune von der Ovacik-Seite her.

Unter dem Feuerhagel flüchteten sich Ibo und seine Freunde in alle Richtungen. Halb kriechend, halb laufend versuchte Ibo, sich aus dem Schußfeld herauszuarbeiten. Aber er rutschte aus und fiel hin. Noch bevor seine Knie das Eis berührten, traf ihn eine Kugel. Ohne noch einmal hochzukommen, fiel er in sich zusammen. In der Hand hielt er seine Pistole ...

Während die Wunde am Kopf Ibo jede Kraft aus dem Körper sog, kamen ihm die Adressen in seiner Hosentasche in den Sinn. Mit letzter Kraft, kurz bevor ihm schwarz wurde vor Augen, zog er die Adressen aus der Tasche und schob sie in den Mund. Er ver­lor das Bewußtsein.

50

Muzaffer, Süleyman und Hüseyin verschwanden in der Dunkel­heit und wurden vom Nebel verschluckt.

Als kein Ton mehr von der Scheune kam, war die Gendarmerie sofort da. Zwei waren getroffen worden. Hüseyin Güngör, der die Scheune verraten hatte, hielt eine Pistole in der Hand. Er schoß auf Ibo, und 40 bis 50 Schrotkugeln fuhren in Ibos Körper und Kopf.

Die Gendarmen durchsuchten die Taschen von Ibo und Ali Haydar und nahmen ihre Ausweise an sich. Dann ließen sie die bei­den Verwundeten liegen und nahmen die Verfolgung der anderen drei auf, die in Richtung der verschneiten Berge geflüchtet waren.

Muzaffer entfernte sich zunächst ein ganzes Stück und ließ sich dann einen steilen Abhang zu einem Bach hinunter. Dort grub er sich in den Schnee ein. Seine Verfolger durchsuchten zunächst die Gegend über der Schlucht und warfen eine Handgranate hinunter, konnten jedoch nicht hinunterkommen.

Eineinhalb Stunden rührte sich Muzaffer nicht vom Fleck. Dann kam er heraus und zog in einer anderen Richtung über den Berg. Zwei Nächte blieb er oben, bevor er sich zu den Mazgirt-Dörfern aufmachte. Dort hielt er sich zwei Monate lang versteckt. Etwa im März kam er nach Istanbul und kehrte bald wieder nach Malatya zurück. Dort hörte er, daß die Freunde, die er suchte, verhaftet wa­ren und ging wieder nach Istanbul.

Süleyman hatte sich kriechend aus dem Gewehrfeuer gerettet, dann in den Bergen seine Spur verwischt und war hinabgestiegen nach Tunceli. Hier versteckte er sich eine Weile und ging anschlie­ßend nach Instanbul.

Ibo war schwer verletzt worden, doch er lebte. Er lag auf dem Bauch, und der Schnee wurde rot von dem Blut, das aus ihm her­aussickerte.

Nach längerer Zeit kam er zu sich. Mühsam richtete er sich auf und untersuchte seine Wunden.

Als er aufstand, floß überall aus seinem Körper Blut. Er war re­gelrecht durchlöchert worden. In seinem Hals steckten Schrotku­geln. Am Kopf hatte er eine Schußwunde. Der Adressenzettel war immer noch in seinem Mund. Er nahm ihn heraus und atmete tief durch. Dann schaute er sich um und versuchte, langsam zu sich zu kommen.

Etwas weiter entfernt sah er Ali Haydar lang ausgestreckt im Schnee. Er trat zu ihm, beugte sich vor, doch konnte er ihn nicht aufheben. Er ließ sich nieder zu Ali Haydar und murmelte etwas. Er schwor Rache. Stolpernd und fallend entfernte er sich von der Scheune.Nach einigen Stunden kauerte er sich in einem Versteck nieder.

Er war in Barikbasi Mezara. Das Blut auf seiner Haut war gefro­ren. Wenn er eine Wunde berührte, durchfuhr ihn brennender Schmerz.

Er konnte es nicht ertragen, Ali Haydar dort so liegen gelassen zu haben. Ob dieses mutige Kind des Haydaran-Gebietes, dieser tapfere Genosse wohl nur verwundet war, ob er noch lebte? Oder hatten die Kugeln ihm das Leben genommen?

Ibo spürte ein bitteres Gefühl in sich aufsteigen. Ali Haydars Bild erschien ihm vor Augen; er mußte an seine Augen denken, die halbgeöffnet waren, als er ihn verließ.

Es war, als wollte er sagen „nimm mich auch mit". Ibo verfluchte seine Schwäche. Ali Haydar war jetzt in ihren Händen. Ibo konnte irgendwie nicht fassen, daß er nichts tun Konnte; das Gesicht seines Genossen vor seinen Augen ließ sich nicht verscheuchen. Seine blu­tigen gekräuselten Haare hatten wie rote Flecken ausgesehen, die gefroren an seinen Schläfen klebten. Seine eine Hand war mit ver-krümmtem Handgelenk zur Faust geballt, sein einer Arm bis zum Schultergelenk blutig.

Dann dachte Ibo an Muzaffer und Süleyman. Hatten sie flüch­ten können? Oder waren sie von Kugeln durchlöchert worden und hatten diese Welt verlassen?

Jeder seiner Genossen, mit denen er vor wenigen Stunden noch dicht an dicht geschlafen hatte, um nicht zu frieren, war jetzt ir­gendwo anders, zwischen Wölfen und Vögeln, im Mündungsfeuer von Gewehren, hinter den Bergen ...

Zusammengekauert in der Morgenkälte dachte Ibo nach und lauschte seinen Herzschlägen. Der Himmel hatte sich geöffnet und die weißen Wolken waren am Horizont verschwunden.

Die Stimme von Ali Haydar klang in seinen Ohren. Er schaute um sich. Es war, als würde er ihn erblicken können.

 

 

 

»... .Ich bin getroffen

 In einer abgelegenen Schlucht der Bergr

 Zur Zeit eines Morgengebetes

 liege ich hier

blutend, lang ausgestreckt... Ich bin getroffen

Mein Traum, dunkler als die Nächte

 niemand zur guten Tat bereit

 Sie nehmen mir das Leben, ohne Aufschub

 Das kann ich in Büchern nicht unterbringen

 Ein Pascha hat die Weisung ausgegeben

 Ich bin getroffen, ohne Verhör, ohne Urteil..

                                       A. Arif

 

In Ibos Leben und politischer Arbeit hatte Ali Haydar einen wich­tigen Platz. Ali Haydar symbolisierte für Ibo den Genossen aus dem Volk. Hinter jeder seiner Eigenarten lagen Ansichten des ana-tolischen Menschen. Als hätte das Leben eines Volkes in ihm eine besondere Form gewonnen. Diese Eigenschaften machten Ali Hay­dar zu einer Art Leitfigur. Er lernte viel von ihm. Nächtelang hörte er ihm zu, ließ ihn von seiner Kindheit, seiner Jugend und den Ent­behrungen der Menschen in seiner Heimat erzählen. Der Vater von Ali Haydar war arm, stammte aus dem Dorf Rusnik im Bezirk Tunceli. Er wuchs als Waise auf und fand später Aufnah­me bei dem Geistlichen Molla Yusuf (Erdoganlar), der in dem Dorf Ricik (Gecitveren) im Kreis Mazgirt wohnte. Man trug ihn als sein Kind ins Dorfregister ein. Nachdem Molla Yusuf das Dorf Ertuhan bei Palu zugewiesen wurde, zog er mit ihm gemeinsam dorthin.

Er arbeitete an der Seite seines Ziehvaters und verdiente sich dar­über hinaus noch als Wasserverkäufer oder Aushilfsarbeiter bei der staatlichen Eisenbahn etwas dazu. So kam er gerade durch.

 

Während der Tage des Aufstandes von Dersim 1938 kam der größte Teil seiner Verwandten und Freunde ums Leben. In diesen Tagen wurde er Zeuge von schrecklichen Ereignissen; er sah Ver­wandte vom Bajonett erstochen, vom Maschinengewehr durchlö­chert, tot schwimmend im Mungur-Fluß. Auch er selbst erlitt un­endlich viele Qualen.

Zwei Jahre nach dem Dersim-Aufstand wurde er zum Militär­dienst eingezogen und nach drei Jahren Militärdienst heiratete er Güzel aus dem Dorf Kil in Nazimiye.

Ali Haydar kam als viertes Kind dieser Familie in dem Dorf Er-tuhan-Palu zur Welt.

Er war gerade ein Jahr alt, als seine Familie nach Elazig auswan­derte. Die Grundschule beendete er in dem Dorf Hüsenik, Provinz Elazig. Schon in diesem Alter fiel er unter den Gleichaltrigen und auch den Größeren durch seine Energie und Intelligenz auf.

Die Mittelschule und das Gymnasium besuchte er in Elazig. Sei­ne Freunde liebten und achteten ihn, weil er selbstlos war, sich Un­gerechtigkeiten widersetzte und den Schwachen beistand.

Schon während der Zeit in der Mittelschule hatte Ali Haydar be­geistert Romane gelesen und nach Wegen gesucht, die Schmerzen, die er selbst gesehen hatte, zu erzählen. Romane, die er gelesen hat­te, gab er sofort seinen Freunden weiter; er steckte sie mit seiner Begeisterung und dem Wissen, das er in sich aufgesogen hatte, an und freute sich, wenn sie seine Gefühle teilten. Für viele seiner Freunde war er der erste, der ihnen Orhan Kemal und Sabahattin Ali* näherbrachte.

Zu diesen gefühlsmäßigen Protesten gegen Ungerechtigkeit kam in den Jahren der höheren Schule der Wille zum Widerstand. Er hatte noch kein ausgereiftes politisches Verständnis, doch innerhalb seiner kleinen Welt hatte er schon manchen Kampf für die Gerech­tigkeit gekämpft.

Im Schuljahr 1969—1970 schloß er das Gymnasium ab und kam nach Istanbul. Innerhalb kurzer Zeit gehörte er mit zur revolutio­nären akademischen Jugend. Die Gefühle und Wünsche, die er seit seiner Kindheit in sich trug, bekamen eine politische Dimension. Die Hartnäckigkeit in seinen Anschauungen beschleunigte seine polirische Entwicklung.

Im Februar des gleichen Schuljahres nahm ihn in Laleli Zivilpolizei unter falschen Anschuldigungen fest. 48 Stunden blieb er in den Folterkammern. Danach kam er in Untersuchungshaft und blieb fast einen Monat im Gefängnis.

Nach seiner Endassung begann seine Freundschaft mit Ibo, und er wurde einer der Kampfgenossen Ibos.

Bereitwillig nahm er schwere Arbeiten auf sich, war geduldig, be­weglich, nutzte seine Zeit gut aus, las immerzu, führte alle ihm übertragenen Aufgaben aus, stellte sich Kritik, konnte agitieren, op­ferte sich auf und konnte sich selbstverständlich und einfach mit Menschen aus dem Volk anfreunden, war kampflustig und konnte Geheimnisse für sich behalten ... Mit all diesen Eigenschaften war er ein Vorbild für seine Kampfgenossen.

In einem Versteck, in dem Ibo sich nach der Flucht aus der Scheune in den verschneiten Bergen aufhielt, kamen ihm nun im­mer wieder die Tugenden seines geliebten Freundes Ali Haydar in den Sinn. Bei dem Gedanken, daß Ali Haydar dort verletzt im Schnee verblutete, war es Ibo, als würde ihm sein rechter Arm ge­nommen werden.

Über all diese Hänge hier hatte Ali Haydar ihn geführt. Die Ge­schichte des Haydaran-Gebiets hatte er ihm erzählt. Die Geschich­te dieser Berge ...

Von dem Einmarsch der Truppen in Haydaran 1938, der Bucht aller Bewohner zwischen 7 und 70 in die Berge, den Schüssen, die schon seit Jahren in diesen Bergen erklingen, vom Denemen-Ge-biet, davon, daß im Lac-Fluß statt Wasser Blut fließt... Ibos ge­liebter Genösse, der ihm all das erzählt hatte, war nun eins gewor­den mit Bergen und Steinen.

Der an Schmerzen gewachsene Ali Haydar war keiner, den man so leicht ersetzen konnte. Er war aufgewachsen mit den Geschich­ten der Alten, die von endlosem Leid erzählten.

Er hatte das Schicksal, das die Bevölkerungen der Täler Har9ik und Kil, des Dorfes Cukur, der Halis-Berge und von Mazgirt erle­ben mußten, fest in seinem Herz verankert. Er war auf diesem Bo­den groß geworden, der vom Zilan-Tal bis hoch in die Gipfel des Ararats voll war von Blut.

Die Trupps, die hinter den Flüchtigen her waren, gaben nach ei­ner Weile die Spurensuche auf und kehrten zur Scheune zurück. Dort sahen sie, daß von den zwei Getroffenen nur noch einer zurückgeblieben war. Der lag, wo er getroffen worden war, in seinem Blut; der andere aber hatte sich, eine Blutspur hinter sich lassend, entfernt und war in den Bergen verschwunden. Oberleutnant Feh-mi fluchte ärgerlich vor sich hin.

Eine Zeitlang suchten sie die Umgebung ab. Dann kehrten sie zu Ali Haydars Leichnam zurück. Sie banden ihn fest und schleiften ihn von Varrinik bis hinunter ins Kutu-Tal hinter sich her. Einer der Soldaten, die an der Operation teilgenommen hatten, teilte dem Staatsanwalt mit, daß sie »den Leichnam auf Äste gelegt und zu dem Polizeirevier des Kutu-Tals geschleift« hätten ...

Es gab auch andere Gerüchte, die sagten, Ali Haydar hätte riefe Seufzer ausgestoßen, als man ein Seil um seinen Hals band und zu ziehen begann; erst auf dem Weg hätte er sein Leben verloren.

Als Ali Haydar beim Polizeirevier ankam, war sein Körper zu Eis gefroren.

Zwei volle Tage hielt Ibo sich zusammengekauert ohne Essen und Trinken in seinem Versteck auf und dämmerte vor sich hin. Er wagte es nicht, sich Dörflern zu nähern.

In seinen Füßen und Händen war ein Stechen, Anzeichen nahen­den Erfrierens. Endlich entschloß er sich, in ein Dorf hinabzustei­gen. Stolpernd und fallend im Schnee, kam er in einem Bergdorf an. Aufgrund des Terrors, der in der Gegend herrschte, schreckten die Dorfbewohner vor diesem verletzten und erschöpften Men­schen zurück. Ibo sagte ihnen, daß sie recht mit ihrer Angst hätten und daß der Terror eines Tages bestimmt ein Ende haben würde.

Er war völlig ausgelaugt, wollte aber den Dorfbewohnern nicht zur Last fallen. So sammelte er seine letzten Kräfte und zog in Richtung der Berge. Nach einigen Stunden kam er zu einem ande­ren Dorf und ging hinein.

Die Dorfbewohner nahmen ihn auf. Die einen heizten den Ofen ein, die anderen brachten ihm Wasser, andere machten ihm Essen und wieder andere verbanden seine Wunden.

Nachdem er gegessen hatte, gaben sie ihm neue Schuhe, strichen Salbe auf seine Wunden und zogen ihm wollene Strümpfe an.

Einer nach dem anderen kamen sie und schauten sich den ver­wundeten Gast an, der sich in ihr Dorf geflüchtet hatte. Sie wünschten sich, daß er sobald wie möglich zu sich käme und in die Berge zurückkehrte.

 

 

Später nahmen ein paar Bauern Ibo in ihre Mitte und brachten ihn in eine drei bis vier Stunden Fußmarsch entfernte Höhle. Dort legten sie Proviant neben ihn, wünschten im Glück und entfernten sich.

Zwei Tage blieb Ibo in der Höhle. Unter der schneidenden Kälte verstärkte sich das Stechen in seinen Füßen und schnürte ihm die Kehle zu. Die Höhle war von allen Seiten vereist. Am Ende des zweiten Tages verließ er sie und stieg hinab in ein anderes Dorf. Es war Nacht, und man sah nur die verschneiten Berghänge als blei­che Flächen gegen den Himmel weisen. Mühsam humpelnd, zog Ibo in das Dorf.

Wegen des Terrors, der in der letzten Zeit immer sinnlosere Aus­maße angenommen hatte, waren die Bewohner verängstigt. Ibo drängte sie nicht weiter, bat sie um nichts und verließ das Dorf.

Es war der fünfte Tag nach seiner Verletzung. Das Brennen sei­ner Wunden hatte sich ausgebreitet und den ganzen Körper erfaßt. Er konnte seinen Kopf nicht mehr wenden. Der Schmerz in seinen Füßen wurde zur Betäubung.

Am Morgen nach dieser Nacht, die er draußen in der Nähe des Dorfes auf dem Schnee in der Dunkelheit zugebracht hatte, er­wärmte das Tageslicht die eisige Kälte ein wenig, und er machte sich wieder auf den Weg. Er war entschlossen zu laufen, koste es, was immer es wolle. Bis auf den letzten Rest würde er alle seine Kräfte in seine Beine stecken, diese Region verlassen, in einer ande­ren seine Genossen finden und genesen.

Er lief, legte eine Pause ein und überlegte, wie sich herausfinden ließ, wo er übernachten könnte, wo er sich befand und wie er wei­tergehen sollte. Er wollte in einem Dorf nach dem Weg fragen. Er traf einen Dorfbewohner, bat ihn um Hilfe und fragte nach dem Weg zu dem Bezirk, in den er wollte. Der Mann brachte Ibo in ein Haus.

Der Lehrer des Dorfes war ein fanatischer Reaktionär...

 

»... Es gibt auch Kämpfende bei diesem Wetter

 Die Hände, die Füße zu Eis geworden,

das Herz eine Hölle Hoffnung, wütend und traurig,

 Hoffnung, ehrlich bis zum Letzten

Zurückgezogen in den Bergen, unter dem Schnee...«

                                     A.Arif

 

Für diesen Agenten mit Staatsmacht namens Celäle, war Ibo wie ein Hauptgewinn im Lotto.

Der Dorfbewohner, den Ibo nach dem Weg gefragt hatte, hatte ihn zu sich nach Hause gebracht und dann den Dorflehrer benachrich­tigt. Dieser kam gleich angerannt, sah sich den Verwundeten an und verriegelte die Tür.

Der erschöpfte Ibo bat sie noch mit brüchiger Stimme, ihn nicht auszuliefern, sagte, er sei Revolutionär, sie sollten ihn gehen lassen. Doch er hatte keine Kraft mehr zu fliehen, sich zu wehren ...

In allen umliegenden Dörfern war bekanntgeworden, daß aus der Scheune bei Vartinik ein Verwundeter geflohen sei. Sämtliche Reaktionäre in der Gegend fieberten darauf, den »großen Preis« zu ziehen. Darüber hinaus hatten sich Agenten in den Dörfern verteilt. Man flüsterte, daß der, der den Flüchtigen fände, eine große Be­lohnung bekäme.

Alle Reaktionäre und Agenten suchten nun nach diesem »in Blut getunkten Brot«.

Oberleutnant Fehmi, der Befehlshaber der Sicherheitskräfte der Operation in Vartinik, hatte die Nachricht ausgegeben, daß alle Kräfte zur Auffindung des geflüchteten Verwundeten mobilisiert werden sollten. In seinem Bericht hieß es: »Es wurde festgestellt, daß der getötete Anarchist den Namen Ali Haydar Yildiz trägt. Uns interessiert jedoch insbesondere der im verwundeten Zustand geflüchtete Anarchist. Nach Abschluß der Autopsie des getöteten Anarchisten und der Erledigung entsprechender Formalitäten stellten wir nochmals einige Trupps zusammen und führten eine inten­sive Suche im ganzen Gebiet durch. Unter anderem habe ich meine Vertrauensleute in den umliegenden Dörfern benachrichtigt. Dar­über hinaus wurden die mir vom Nationalen Sicherheitsdienst (Mit") zugesandten Photos der Anarchisten den Vertrauensleuten des Geheimdienstes zugestellt. Am Morgen des 24. Januar hielt sich die unter meinem Kommando stehende Einheit auf dem Polizeire­vier von Gökce auf. Unser Vertrauensmann Hüseyin Güngör aus Mirik benachrichtigte uns, daß ...«Mit Unmengen von Soldaten umzingelten sie das Dorf. Beute­gierig riß Oberleutnant Fehmi die Tür auf.

Ibo lag im Raum auf der Erde. »Du bist Ibrahim Kaypakkaya, nicht wahr?« brüllte der Oberleutnant von oben herab. »Wenn du es weißt, wieso fragst du dann?« antwortete Ibo mit messerscharfer Stimme.

Dann fragte der Leutnant Ibo, wie er geflüchtet sei. Er wollte einfach nicht fassen, daß Ibo ihm durch die Finger geglitten war. »Ich habe die Zähne zusammengebissen und bin geflüchtet, wie es nötig ist, um solchen Faschisten wie euch zu entkommen«, gab Ibo zur Antwort.

Sie schnürten Ibo zusammen und brachten ihn hinab ins Kutu-Tal. Das Kutu-Tal verläuft zwischen den Dörfern Mirik und Gök­ce. In seiner Mitte schlängelt sich ein Bach mit eiskaltem Wasser.

Eineinhalb Stunden ließen sie Ibo am Ufer laufen. Der Weg führte ein paarmal durch das Wasser. Von dem eisigen Wasser wurden Ibos schmerzende Füße völlig taub. Sein ganzer Körper zog sich zusammen, seine letzten Kräfte schwanden ...

Danach banden sie Ibo hinter einen Jeep. Ein Unteroffizier der Truppe, Mehmet Demir, erklärte später in seiner Aussage, daß sie »Ibo von dem Dorf Mirik bis zu dem Polizeirevier von Gökce hät­ten laufen lassen«.

Das erste Vernehmungsprotokoll von Ibo wurde gleich im Poli­zeirevier Gökce aufgesetzt. Ibos Kleidung war feucht und voller Blut, er war verletzt, müde und hungrig. Doch er beugte sich nicht. Mit erschöpften, aber unversöhnlichen Blicken beobachtete er die, die ihn gefangen und hierher gebracht hatten und die anderen Gendarmen, wie sie aufgescheucht hin und her liefen. Dann woll­ten sie seine Aussage aufnehmen.

 

Sie brachten ihn ins Vernehmungszimmer. Sie wollten ihn so schnell wie möglich zum Reden bringen, wollten alles schwarz auf weiß haben. Unmengen von Fragen prasselten auf Ibo ein. Ibo be­antwortete ihre Fragen kurz und bündig. Aber es waren nicht die Antworten, die sie wollten. Sie wiederholten ihre Fragen, Ibo wie­derholte seine Antworten. Zu guter Letzt protokollierten sie Ibos Antworten nach ihrem eigenen Verständnis und in ihrem eigenen Stil folgendermaßen:

»Ich bin Revolutionär, und als Revolutionäre verschweigen wir nie et­was über politische Themen. Wir sagen frei unsere Meinung. Wir reden aber nicht über Aktivitäten unserer Organisation, die Freunde, die in­nerhalb der Organisation an uns glauben, sowie die Personen und Gruppen, die zwar nicht in der Organisation sind, uns aber helfen. Darüber reden wir nicht, und aus diesem Grunde werde ich bezüglich der Aktivitäten unserer Organisation gar nichts sagen. Da ich sowieso kein Mitglied irgendeiner Organisation bin, gibt es auch nichts, was ich in bezug auf organisierte Aktivitäten aussagen könnte. Als Revolutio­näre wollen wir die ärmere Bevölkerung von der Ausbeutung des Großbürgertums, der kollaborierenden Imperialisten und der Groß­grundbesitzer befreien, die Arbeiter, den landlosen und mittleren Bau­ernstand, den kleinen Handwerker und Gewerbebetreibenden sowie den revolutionären Flügel der nationalen Bourgeoisie aus der Ausbeu­tung und Tyrannei befreien. Aus diesem Grunde bin ich bis hierher ge­kommen. Als Revolutionäre vertrauen wir in erster Linie auf die Arbei­terklasse. In zweiter Linie vertrauen wir den landlosen Bauern und dann der Reihe nach den mittelständischen Bauern, den kleinen Hand­werkern und den Gewerbebetreibenden. Mit diesen Idealen bin ich hierher gekommen, um insbesondere die landlosen Bauern aufzuklären. Da ich aber in diesen Kreisen völlig fremd bin, konnte ich mit nieman­dem Verbindung aufnehmen. Vor zwei Wochen sind wir zu der Nie­derlassung Vartinik des Dorfes Gökce gekommen, wo wir in eine Aus­einandersetzung mit der Gendarmerie gerieten ...

Wir haben uns in einer verlassenen Scheune bei Vartinik niederge­lassen. Ich weiß nicht, wer uns dorthin Essen gebracht hat und kenne auch die Personen nicht, mit denen ich dort war. Auch wenn ich sie kennen würde, würde ich ihre Namen nicht nennen. Unser Ziel ist es, die armen und mittelständischen Bauern sowie die mittelständischen

 

dörflichen Händler und Gewerbebetreibenden aus den Händen der Volksfeinde zu retten, zu denen wir insbesondere die Großgrundbesit­zer, die Großbourgeoisie und die mit dem Ausland kollaborierenden Imperialisten zählen. Wir wollen deshalb diese drei Kräfte auflösen und alle Produktionsmittel vergesellschaften. Es gibt verschiedene Wege, um dies zu erreichen. Wenn es nicht möglich ist, dieses Volk in seiner Ge­samtheit durch Aufklärung auf politischem Weg an die Macht zu brin­gen, ist es unausweichlich und selbstverständlich, Gewalt einzusetzen. Es gibt dafür verschiedene Beispiele in der Geschichte. Unserer

Mei­nung nach war die Französische Revolution von 1789 eine bourgeoise Revolution. 1917 wurde die Bourgeoisie vernichtet, und die Macht lag voll in der Hand der Arbeiterschaft. Da es in der heutigen Türkei nicht möglich ist, mit legalen Mitteln diese Ideologie zu verbreiten, bzw. die­se Gesellschaftsordnung herzustellen, und da uns kein Lebensrecht zu­gestanden wird, waren wir gezwungen, in die Berge zu ziehen und den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Entsprechend halten wir es für ge­rechtfertigt, die drei genannten Kräfte, die wir als unsere Gegner be­trachten, mit der Waffe zu bekämpfen. In Vartinik schlief ich zu Beginn des Zusammenstoßes; die Schusse weckten mich, und wir versuchten zu viert zu fliehen. Über den Verbleib meiner Freunde ist mir nichts be­kannt. Ich hatte keine Waffe bei mir und habe aus diesem Grunde nicht auf die Gendarmerie geschossen. Als ich die Scheune in Vartinik ver­ließ, hatte ich ein Stück Brot in meiner Tasche. Mit diesem Brot habe ich vom 24. bis zum 29. in den Bergen überlebt. Ich habe im Schnee übernachtet. Zuletzt bin ich in ein mir unbekanntes Dorf gegangen und bin dort festgenommen worden. Da ich im Schnee nächtigte, froren mei­ne Hände und Füße und schwollen an. Wie oben schon gesagt, kenne ich die Personen, mit denen ich zusammen war, nicht. Auch wenn ich sie kennen würde, so würde ich ihre Namen nicht nennen. Wir sind et­wa zwei Wochen in dem Haus geblieben. Sie haben Brot und andere Nahrungsmittel besorgt, ich weiß aber nicht, woher das kam. Bei der Auseinandersetzung habe ich meine Freunde verloren; wir haben uns nicht noch einmal getroffen. Die Decken, unter denen wir schliefen, ha­ben wir von Personen gekauft, die ich nicht kannte. Ich kenne die Freunde in der Organisation nicht und würde auch ihre Namen nicht nennen, wenn ich sie kennen würde. Wie oben schon gesagt, ist es unse­re Absicht und unser Ziel, alle Produktionsmittel zu vergesellschaften. Soweit die Aussage des Festgenommenen.

Bei einigen Fragen weigerte er sich, eine Antwort zu gehen. Es wur­de festgestellt, daß er auf dem Kopf eine dunkelbraune Schlägermütze trug, dessen Oberteil zerrissen und zerbeult war, ferner trug er einen hiesigen Militärparka, darunter ein Jacket, einen Pullover und andere Kleidung; weiterhin trug er drei Paar Hosen übereinander und an den Füßen weiße Wollstrümpß, wie man sie in hiesigen Dörfern mit der Hand strickt, darüber ein Paar Nylonstrümpfe und ein Paar Gummi­stiefel, Größe 45, Marke »Celik«.

 

Oberleutnant Febmi Altinbilek, Kommandant der Zentralen Gen­darmarie, wurde angewiesen, dafür Sorge zu tragen, daß ein Foto des Festgenommenen gemacht, entwickelt und zusammen mit dem Negativ unseren Beamten ausgehändigt wird.

    Das Protokoll wurde soweit vorgelesen und unterschrieben.«

29. 1. 1973    Mehmet Seykan      Zweiter Staatsanwalt       16381   

         Festgenommener _Ibrahim Kaypakkaya

 

»Grad' noch hast du's geschafft, Fürst der Tataren Meine Linke halt das Amulett, das blutgetränkte,

 Die Rechte sucht Halt

 Kamerad...!

Wenn das kein Kampf sein soll;sie schießen sich schon ein, die Wütenden; hoff, daß sie nicht von allen Seiten kommen; schon ist Stellung bezogen auf allen Bergen, Hinterhalt gelegt auf allen Pfaden.

Die Berge bringen das Gebet der Bataillone blutiger Abend wird es über dem Granatapfelhain Sei's auch der Todesengel, der da kommt und nicht ein Unterhändler: Verdammt will ich sein, wenn ich fliehe!«

A.Arif

In dieser Nacht wurde Ibo stundenlang gefoltert. Er brach zusam­men. Dies war sechs Tage nach dem Zusammenstoß bei Vartinik. Fünf Nächte hatte er zwischen Fels und Stein zugebracht und am Tag seiner Festnahme hatte man ihn erst stundenlang auf eisigen Wegen laufen lassen und dann verhört. Nach dem Verhör schlös­sen sie ihn ein. Dann begann die »Entscheidung im Ring«. Sein er­schöpfter Zustand hielt sie nicht von Beschimpfungen, Tritten oder Faustschlägen ab. Sie wollten, daß er sich ergab.

Doch Ibo ergab sich nicht.

Auf kahlem Beton brach er zusammen. Mit dem stechenden Schmerz der erfrorenen Füße verbrachte Ibo die Nacht vom 30. Ja­nuar verletzt und schlaflos auf dem Polizeirevier von Gökce.

Am nächsten Morgen brachten sie ihn unter der »Aufsicht« des Oberleutnants Fehmi nach Tunceli. Eine Nacht »feierten« sie ihn dort. Dann brachten sie ihn nach Elazig.

Nicht wenige Folterbegeisterte, nicht wenige Volksfeinde wuß­ten von Ibos »Ruhm« und brannten darauf, ihn zu sehen. Für sie war es ein Festtag, als Ibo nach Elazig gebracht wurde.

Einer nach dem anderen kam und tobte seinen Haß an Ibos schmerzendem Körper aus. Einer schlug ihn, der nächste be­schimpfte ihn, ein weiterer knüppelte ihn und ein weiterer legte ihn in Ketten. Ibo begegnete ihnen allen mit unerschrockenen Worten.

Furchtsam sahen die Folterer Ibos grüne Augen, die sie unter den blonden Haaren unverwandt anschauten. Sie vermieden seinen Blick, und irgendwie konnten sie es nicht ertragen, daß sie sich vor Ibo wie ein Nichts vorkamen.

Ibo verbrachte in Elazig eine Nacht und wurde dann, wiederum unter »Aufsicht« des Oberleutnants Fehmi, nach Diyarbakir ge­bracht.

Überall, wo sie hinkamen, stolzierte Oberleutnant Fehmi mit sei­ner »unschätzbaren, wertvollen Jagdbeute« umher. In Diyarbakir übergab er Ibo Yasar Degerli, dem Staatsanwalt der Ausnahmezu­standsverwaltung.

Yasar Degerli wartete voller Neugier auf Ibo. Man brachte ihn in sein Büro, wo eine Menge Menschen auf ihn warteten und ihn mit Fragen traktierten:

»Los, gib's schon zu, du bist Asur, du bist Hamza, du bist Hay-dar, du bist Musa, du bist Mustafa ... Sprich, wir kriegen's schon aus dir raus ...!«

Wortlos hörte Ibo sich ihr Gebrülle an. Diese Person, dessen Ruhm sich unter all' diesen Namen seit Monaten von Dorf zu Dorf verbreitet hatte, diese Person, die sie einfach nicht hatten fan­gen können, stand jetzt vor ihnen.

Später ließen sie Ibo in einen gepanzerten Wagen steigen. Der Wagen hielt in der Ziya-Gökalp-Straße vor dem Folterzentrum von Diyarkir. Der Staatsanwalt Yasar Degerli war dafür, ihn dort sofort ins Verhör (!) zu nehmen. Er war der Meinung, daß aus Ibo allenfalls in diesem Zustand eine Aussage herauszupressen war. Doch einer der Offiziere sagte, daß Ibos Zustand ernst sei, daß er sterben könne, wenn man ihm noch weiter zusetzte. Er wechselte ein paar Worte mit dem Staatsanwalt und man entschied, Ibo ins Krankenhaus zu bringen. So brachten sie Ibo in das Militärkran­kenhaus von Diyarbakir, legten ihn dort in einem Zimmer auf das Bett und ketteten seine Hände und Füße am Bettrahmen fest.

Seit dem 24. Januar war dies das erste Mal, daß Ibo sich in einem Zimmer und auf einem Bett wiederfand. Ihm war, als lösten sich al­le seine Muskeln. Seine Arme, seine Beine, sein Hals schmerzten, als würden sie abreißen, als würde ihnen die Haut abgezogen. Sein ganzer Körper schien verfault. Er war angekettet, und er konnte sich nicht umdrehen. Nur wenn das Essen gebracht wurde, banden sie seine Hand los. Im Nebenzimmer lag die Lehrerin Fatma Erez aus der Grundschule von Siverek.

Fatma Erez konnte aus dem Nebenzimmer, an dem man nicht mal einen Vogel vorbeiließ, Ibos Stimme hören. Sie bekam mit, daß der Staatsanwalt sehr oft Ibo aufsuchte. Einmal hörte sie, wie der Staatsanwalt Ibo anbrüllte: »Ich selbst werde es sein, der dich tötet; dein Tod wird aus meinen Händen kommen!« Ibo gab darauf zur Antwort: »Weder von dir und deinen Vorgesetzten noch vor dem Tod habe ich Angst.«

In diesen Tagen waren die Nachrichtensendungen im Radio voll von Tod, Blut, Durchsuchungen und Verhaftungen. In einer Sen­dung wurde gemeldet, daß „in der Scheune von Vartinik in der Ge­gend von Mirik im Bezirk Tunceli Ali Haydar Yildiz tot, und Ibra­him Kaypakkaya in verwundetem Zustand gefaßt« worden seien.

In der Morgenkühle des 20. Mai näherte sich der Bus auf dem tau­feuchten Asphalt dem Ziel Diyarbakir. Der Fahrer hatte das Radio angestellt. Ali Kaypakkaya zuckte plötzlich zusammen, wachte auf. Im Radio kamen Nachrichten. Er schaute aus dem Fenster nach draußen.

Die Helligkeit hatte den Nebelvorhang aufgerissen und das Ge­sicht der im Mai wiederauflebenden Erde geöffnet.

Einige der Reisenden begannen, über die Nachrichten zu reden.

Ali Kaypakkaya dachte an den schon Monate zurückliegenden Tag, an dem er aus dem Radio von der Verhaftung seines Sohnes erfahren hatte.

Mit einem Mal war ihm schwindelig geworden. »Heyvah!« hatte er gerufen und war in sich zusammengesackt. »War Ibrahim doch bloß auch gestorben«, hatte er dann gemurmelt. »Was sagst du da?« hatten die Nachbarn um ihn herum gefragt und er hatte ge­antwortet: »Jetzt werden sie ihn zehnmal in den Tod schicken. Sie werden ihm endlose Fragen stellen. Ich kenne ihn, er wird den Mund nicht aufmachen. Sie werden ihm die Seele rausreißen, um ihn zum Reden zu bringen ...«

Die Nachbarn versuchten, ihn zu beruhigen. »Mach dir keine Sorgen, so lange er noch lebt, ist auch noch Hoffnung«, hieß es.

Doch Ali Kaypakkaya kannte seinen Sohn. Einmal, als sein Sohn ihm von den Revolutionären aus Vietnam, oder war es Korea, na ja, irgendwo da, jedenfalls hatte er von einem Mann erzählt, der sich selbst, um der Polizei nichts zu verraten, in einen Zustand ge­bracht hatte, in dem er nicht mehr reden konnte.

Und dann hatten sie im Radio auch noch gesagt, daß Ibrahim verwundet sei. Ein einziges Mal war das gemeldet worden und dann nicht mehr. Jetzt hielt irgendein langweiliger Mensch irgend­eine langweilige Rede. Ali Kaypakkaya hätte ein Auge dafür herge­geben, dieselben Nachrichten noch einmal zu hören. Vielleicht wa­ren da noch einige Worte, die er in der ersten Verblüffung über­hört hatte.

So sehr sie sich auch bemühten, es war seinen Nachbarn nicht gelungen, ihn zu beruhigen.

 

Am nächsten Morgen ging Ali Kaypakkaya sofort zu seiner Ar­beitsstelle und bat um Urlaub. Er wurde ihm nicht gewährt. Als letzten Ausweg ging er zum Arzt. Auf dem Weg zum Krankenhaus kaufte er sich' eine Zeitung und las wieder und wieder die wenigen Zeilen der Nachricht.

Im Krankenhaus sprach er in aller Offenheit mit dem Arzt. Er zeigte auf die Zeitung. »Hier«, sagte er, »das, das ist mein Sohn. In Tunceli ist er in eine Auseinandersetzung mit den Gendarmen gera­ten; sein Freund wurde getötet und er selbst verwundet. Ich muß herausfinden, was passiert ist, wo er jetzt ist, ob er tot ist oder noch lebt. Ich möchte, daß sie mich eine Woche krankschreiben...«

 

 

Der Arzt schwieg, dachte einen Moment nach und schrieb ihn dann eine Woche krank.

Nach dem Arztbesuch ging Ali Kaypakkaya direkt zur Kom­mandantur der 28. Division der Ausnahmezustandsverwaltung. Sie schickten ihn zu einem Oberst. Dieser hörte sich an, was Ali Kay­pakkaya zu sagen hatte, und begann zu lachen. »Was kümmerst du dich noch um so ein Kind?« sagte er, »Wo willst du in dieser Eises­kälte hin? Lieber gar kein Kind als so eins ...«

 

Ohne ein Wort zu erwidern, ging Ali Kaypakkaya wieder weg. Schon dieser erste kurze Kontakt mit der Ausnahmezustandsver­waltung hatte ihn eine Menge gelehrt.

Er fuhr zum Kizilay*, in das Hauptpostamt und sagte am Schal­ter, daß er nach Tunceli telefonieren wolle. Der Beamte fragte nach der Nummer, die er in Tunceli wünschte.

 


»Die Gendarmeriekommandantur des Bezirks«, antwortete er.

 

 

„... Ja, mein Tapferer, ja

An dem Zel-Berg steigst du den Hang empor

Schnee ist gefallen; es  reicht dir zur Hüfte

Ja, mein Ali Haydar,

ja Ja,mein Ibrahim,

ja Ja,mein Tapferer, ja..."

                                            Aus einem auf kurdisch gesungenen Klagelied

 

 

Als die Verbindung hergestellt war, antwortete am anderen En­de ein Soldat der Gendarmerie. Seine Stimme kam in unverständli­chen Fetzen herüber.

»Ich habe gehört, daß Ibrahim Kaypakkaya gestern in Tunceli ver­wundet gefangen genommen wurde«, brüllte Ali Kaypakkaya in die Muschel. »Ich bin sein Vater. Ich bitte Sie um alles in der Welt, Sie haben doch auch Vater und Mutter; wo ist Ibrahim jetzt, ist er schwer verwundet?« »Einen Moment, Onkel«, unterbrach ihn der Soldat. Dann hörte er die Stimme eines anderen Gendarmeriesol­daten, der sagte, daß Ibrahim am Hals und an der Schulter verwun­det, seine Füße erfroren seien und daß man ihn nach Diyarbakir gebracht habe. Zuletzt fragte Ali Kaypakkaya: »Ist es nötig, daß ich hinfahre?«, worauf der Soldat antwortete: »Es wäre gut, wenn du fährst« ,..

Noch am gleichen Abend stieg Ali Kaypakkaya um 20.00 Uhr in einen Reisebus.

Am Busbahnhof von Diyarbakir stieg er aus. Er kannte die Stadt nicht. Nachdem er eine Weile herumgeim war, traf er auf einen Polizisten, dem er erzählte, daß er Ibrahims Vater sei. Dann fragte er, wo er seinen Sohn finden könne. Der Polizist antwortete un­wirsch: »Es fahren Kleinbusse hin. Steig in Dagkapi aus!«

Nach mehrmaligem Nachfragen fand er das Krankenhaus.

Am Eingang standen Soldaten Wache, Ali Kaypakkaya wollte sich einfach zwischen einige andere Besucher mischen. Der Wach­habende fragte jeden nach seinen Erlaubnispapieren. Auch Ali Kay-pakkayas Papiere wollte er sehen. Als Ali Kaypakkaya sagte, daß er keine habe, wurde er gefragt: »Zu wem willst du?« Ali Kaypakkaya gab den Namen seines Sohnes an und im gleichen Moment brüllte der Wachhabende: »Rühr dich nicht vom Fleck!« Er richtete seine Waffe auf ihn. »Wenn du dich auch nur einen Fingerbreit bewegst, dann will ich nicht ich sein, wenn ich nicht schieße!«

»Bruder«, entgegnete Ali Kaypakkaya, »du hast mich nicht in den Bergen geschnappt und hierher gebracht. Ich bin von selbst ge­kommen, um nach meinem Sohn zu fragen. Ist er am Leben, ist er tot? Wo ist er jetzt? Um das herauszufinden, bin ich gekommen. Auch wenn du mich so anschreist, sagst >Hau ab<, werde ich nicht gehen. Aber trotzdem, wenn du willst, dann schieß..!!«

 

Der Soldat ging zum Wachhäuschen, drehte sich dabei ständig nach Ali Kaypakkaya um. Er zitterte am ganzen Körper. Er sprach irgendetwas ins Telefon und baute sich sofort wieder vor Ali Kay­pakkaya auf. »Nun sei doch ruhig; ich bin hier, ich beweg' mich ja nicht«, versuchte Ali Kaypakkaya den Soldaten zu beruhigen.

Nach kurzer Zeit fuhr ein Militärfahrzeug vor, aus dem zwei Soldaten und ein Unteroffizier stiegen. »Was gibt's?« fragten sie. »Da, mein Kommandant, das ist der Vater von dem Anarchi­sten ...!« meldete der Wachhabende und zeigte auf Ali Kaypak­kaya.


Der Unteroffizier hörte sich Ali Kaypakkayas Anliegen an und sagte dann: »Wir dürfen dich nicht zu ihm lassen. Geh' zur Staats­anwaltschaft und hol' dir einen Erlaubnisschein. Sie werden dir zwei Personen mitgeben. Dann kommst du hierher. Wenn die Per­son, die du suchst, hier ist, dann lassen wir dich zu ihr. Und jetzt frag' nicht weiter ...«

Ali Kaypakkaya verließ das Krankenhausgelände und ging zur Ausnahmezustandskommandantur. Am Eingangstor schaufelten 5-6 Soldaten unter der Regie eines Unteroffiziers Schnee. Er ging auf den Unteroffizier zu und brachte sein Anliegen vor. »Bruder, an deiner Stelle würde ich da nicht reingehen!« sagte der Unteroffi­zier. »Sie werden dich verhören, vielleicht dich sogar dort behalten, du wirst gefoltert ...«

»Und wenn sie mich töten; ich laß es auf mich zukommen« ent gegnete  Ali  Kaypakkaya.   »Hauptsache,  du  erlaubst  mir,  zum Staatsanwalt zu gehen.«

Der Unteroffizier rief einen der Soldaten und sagte ihm etwas. Der Soldat nahm seine Waffe in die Hand. So gingen sie durch das Haupttor, vorneweg Ali Kaypakkaya und fast 10 Meter hinter ihm der Soldat mit der Waffe in der Hand.

Dann traten sie in ein Büro. Dort trug Ali Kaypakkaya einem kräftig gebauten, blonden Leutnant sein Anliegen vor.

 

In Begleitung des Leutnants wurde Ali Kaypakkaya in ein weite­res Büro gebracht. Beim Eintritt nahm der Leutnant Haltung an. Am Tisch im Raum saß ein kleingewachsener dunkler, schmaler Mensch, der in einem Heft blätterte. Als er den Leutnant sah, hob er den Kopf.

»Dieser Freund ist gekommen, um eine Erlaubnis zu beantra­gen«, sagte der Leutnant. »Was für eine Erlaubnis?«, fragte der Mann.

Ali Kaypakkaya setzte an, sein Anliegen auch ihm vorzutragen, doch in dem Augenblick, als der Name »Ibrahim« fiel, richtete sich der Mann auf und begann zu brüllen: »Also der Vater von diesem Anarchisten, ja? Der Vater von diesem Banditen, was?«

 

»Sei er Anarchist, sei er Bandit«, antwortete Ali Kaypakkaya. »Sie wissen, was ein Vater, eine Mutter durchmachen können. Ich will nur wissen, wie es meinem Sohn geht, das ist alles. Ist er am Le­ben, ist er tot? Ich will das sehen. Dafür möchte ich die Erlaubnis von Ihnen ...« Der Mann unterbrach ihn brüllend: »Dich muß ich hierbehalten; deine Aussage brauche ich ...« Niedergeschlagen sprach Ali Kaypakkaya weiter: »Tun Sie, was sie für nötig halten; ich will ja nur einmal seine Stimme hören; sprechen Sie am Telefon mit ihm; sagen Sie ihm, sein Vater sei gekommen, und während Sie reden, will ich einfach nur hier stehen und von hinten hören; mehr will ich doch gar nicht...«

»So einem Anarchisten, einem Wegelagerer, einem Gangster hel­fe ich nicht!« fuhr der Mann fort zu brüllen. Dann machte er dem Leutnant ein Zeichen, und dieser führte Ali Kaypakkaya aus dem Raum.

Zusammen mit dem Soldaten, der ihn gebracht hatte, kehrte er zum Haupttor zurück. Dort bedankte er sich bei dem Unteroffizier und ging fort.


Auf der Straße sprach er mit einigen Leuten. Jeder der Ansässi­gen, der von seinen Sorgen hörte, verstummte, wurde betrübt und wollte helfen.

»Wenn man nach Diyarbakir reinfährt, ist rechts eine Moschee und links ein Militärposten« sagte jemand. »Da bei der Moschee gibt es Zellen, da ist dein Sohn wahrscheinlich ...«

Diese Worte waren für Ali Kaypakkaya ein Hoffnungsschim­mer. Er kam zu dem Ort, den man ihm beschrieben hatte, und sprach den wachhabenden Soldaten an: «Mein Sohn soll hier in den Zellen sein, irgendwo hier. Ist er am Leben, ist er tot, wie geht es ihm, können Sie mir etwas sagen?«

»Onkel«, sagte der Wachhabende mit leiser Stimme. »Wenn ich jetzt hier meine Wache verlasse und rüber zu der Wache bei den Zellen gehe, das geht nicht. Da sitzt die Polizei, da werden die Ver­höre gemacht. Wenn die sehen, daß ich dir helfe, bin ich dran, und meine Zeit beim Militärdienst wird verlängert. Dräng' bitte nicht...«

 

Als Ali Kaypakkaya kaum mehr Hoffnung hatte, seinen Sohn doch noch zu Gesicht zu bekommen, begann er, in der Stadt nach einem Anwalt zu suchen.

Er fand schließlich einen und begann zu erzählen. Der Anwalt hörte sich an, was er zu sagen hatte und antwortete: »Auch wenn du mir 10000 Lira gibst, kann ich immer noch nicht hingehen und etwas über deinen Sohn erfragen. Das Verhör ist noch nicht been­det, die Akten sind noch nicht freigegeben ...«

Mit verwirrtem Kopf und trüben Gedanken begann Ali Kaypak­kaya, in Diyarbakir herumzulaufen.

Er erblickte ein Schild: »THA-Büro Region Südost«*. Er trat ein. Ein fetter Mann kam auf ihn zu. Nachdem er sich angehört hatte, was Ali Kaypakkaya zu sagen hatte, sagte er unwirsch: »Was geht mich das an, wenn du der Vater von Ibrahim bist!« »Mein Herr«, bat Ali Kaypakkaya. »Ich will Sie zu nichts verführen; ich will nichts von Ihnen, was gegen die Ordnung verstößt. Nur: Wis­sen Sie irgendetwas über meinen Sohn? Das ist es, worum ich bit­te ...«


Der fette Mann in der Nachrichtenagentur bekam Mitleid und sagte, daß er Ibrahim zwei Tage vorher gesehen hätte. »Dein Sohn ist am Leben«, sagte er. »Gestern haben sie noch zwei Personen gebracht, die ihm Unterkunft gewährt haben sollen. Mehr weiß ich nicht; wir veröffentlichen nur, was die Ausnahmezustandsverwal­tung uns erzählt; Recherchen auf eigene Faust sind verboten ...«

Ali Kaypakkaya hatte inzwischen alle Straßen von Diyarbakir abgelaufen. Bis auf 50 Meter war er an seinen Sohn herangekom­men, hatte ihn aber nicht zu Gesicht bekommen. Er ließ ihn hinter Steinen und Mauern und kehrte Hunderte von Kilometern zurück. Er machte sich auf den Rückweg nach Ankara über Adana.

Auf dem Weg nahm der Bus in Siverek Häftlinge auf. Auf der einen Seite des Ganges saßen zwei Gendarmen, auf der anderen zwei Häftlinge mit kahlrasierten Köpfen.

Es stellte sich heraus, daß einer der Gendarmen aus Amasya stammte. Ali Kaypakkaya erzählte, daß er aus Corum war. In knappen Sätzen sprachen sie miteinander.

 

Da fragte der Gendarm, warum er nach Diyarbakir gekommen sei. »Mein Sohn ist verhaftet«, antwortete Ali Kaypakkaya. Als er auf seine Nachfrage hin auch den Namen seines Sohnes sagte, be­merkte einer der Gendarmen: »Von diesem Anarchisten der Vater bist du also!«, und der aus Amasya sagte: »Die sollte man alle vors Gewehr stellen.« Da gerieten die Leute im Bus in Bewegung. Einige der Reisenden, die bis dahin wortlos das Gespräch verfolgt hatten, standen auf. »Weißt du denn überhaupt, wessen Spiel du hier mit­spielst?« brüllten sie den Gendarmen aus Amasya an. Einige andere Reisende mischten sich ein und beruhigten die Streitenden. Dann sprachen die Mitfahrer der Reihe nach Ali Kaypakkaya ihr Mitge­fühl aus: »Das wird schon noch; sei nicht traurig, Onkel. Ihr seid bestimmt bald wieder zusammen ...«

Mit der Sorge um den Sohn im Herzen kehrte Ali Kaypakkaya nach Hause zurück. Zu Hause wartete man schon auf ihn. Freunde und Verwandte hatten von Ibo gehört und waren aus dem Dorf ge­kommen ...

 

 

 

»... Ach, er gebt dahin, geht dahin

 Er geht dahin, Ibrahim geht dahin

 So kommt doch zum Vartinik-Fluß Ach, es ist Nebel dort und Rauch...«

Aus einem auf kurdisch gesungenen Klagelied

 

 

Zu dieser Zeit lag Ibo in einem hinteren Zimmer des Militär­krankenhauses, zu dessen Tor sein Vater vorgedrungen war. Seine Hände und Füße waren angekettet.

Zunächst wurde die Schußwunde an seinem Kopf behandelt und verbunden. In einer Operation holten sie einen Teil der Schrotku­geln heraus, die der Spitzel an der Scheune in Vartinik auf ihn ab­gefeuert hatte und die an 40-50 Stellen seines Körpers eingedrun­gen waren.

In seinen Füßen hatte er kein Gefühl mehr. Sie schienen nicht mehr zu ihm zu gehören, waren wie abgefallen.

Der Staatsanwalt Yasar Degerli war bestrebt, Ibo so schnell wie möglich aus dem Krankenhaus herauszubekommen und ihn zu verhören. Die Ärzte wiesen ihn darauf hin, daß Ibo sehr schwer verwundet sei und wollten, daß er noch länger im Krankenhaus blieb. Deswegen mußte sich Staatsanwalt Yasar Degerli in den er­sten Tagen damit begnügen, einen »Feststellungsbescheid« zu ver­fassen. Und der sah folgendermaßen aus:

»Um die Personalien und den Zustand des Ibrahim Kaypakkaya, von dem gesagt wird, daß er einer der Hauptverantwortlichen der Vereini­gung sei und der zufolge der vorliegenden Beweise unter den Tarnnamen >Hamza< und >Musa< Aktivitäten im Sinne der Organisationsziele durchgeführt hat und der bei einer Suchaktion, die im Dorf Vartinik, Bezirk Tunceli und in der Umgebung durchgeführt wurde, verwundet gefaßt wurde - genauer gesagt, dem es in verwundetem Zustand gelang zu fliehen -, festzustellen und festzuhalten, wurden der zuständige Staatsanwalt und Batteriechef Yasar Degerli, in Begleitung des dienstäl-testen Polizeiwachmeisters Cemal Kusakci in das Krankenhaus bestellt, in dem der Gefangene sich noch immer befindet. Sie brachten Mehmet Cetin mit, einen ehemaligen Schulkameraden des Gefangenen, der ihn aus früherer Zeit kennt und sich selbst aufgrund einiger Anschuldigun­gen in Polizeigewahrsam befindet. Das Anliegen wurde dem wachha­benden Arzt vorgetragen, das Einverständnis des wachhabenden Arztes Dr. Major Saadettin Demiray eingeholt und der wachhabende Unterof­fizier Mehmed Salih Güney angewiesen, den Raum, in dem der Ange­klagte sich befand, zu öffnen. Daraufhin wurde in Anwesenheit von Mustafa Inanc sowie aller oben genannter Personen die Person, deren Größe schätzungsweise 1,65 m beträgt, deren Haare blond und Augen grün sind, deren Kopf verbunden ist, die an der linken Seite des Halses eine Binde trägt und mit dem linken Handgelenk an den Bettrahmen angekettet ist, nach ihrem Namen gefragt. Die Person sagte aus, daß ihr Name Ibrahim Kaypakkaya sei. Daraufhin wurde der zur Identifizie­rung mitgebrachte Mehmet Cetin gefragt, der dieses bestätigte. Er sei sein Schulfreund von der Lehrerschule in Caba und er könne ihn trotz seines Verbandes eindeutig identifizieren. Die o. g. kranke Person wur­de zum Sprechen aufgefordert, woraufhin der Identifizierungszeuge aus­sagte, daß dies die Stimme seines ihm seit langer Zeit bekannten Freun­des Ibrahim Kaypakkaya sei. Anschließend wurde die erkennungs­dienstliche Behandlung von Ibrahim Kaypakkaya vorgenommen... Die Redeweise des Angeklagten und sein äußeres Erscheinungsbild lie­ßen zwar auf seine Vernehmungsfähigkeit schließen, doch wie schon vor einiger Zeit in einem Telefongespräch mit dem Arzt gesagt und durch die Verlautbarungen des diensthabenden Doktors Major Saadet­tin Demiray bestätigt, wurde mitgeteilt, daß Ibrahim Kaypakkaya auf­grund der Erfrierungen an seinen Zehen noch operiert und die Wunde an seinem Kopfweiter behandelt werden müsse. Da ein längeres Ver­hör sich nicht mit dieser Situation vereinbaren ließe, wurde der Be­schluß gefaßt, es vorerst bei dieser Feststellung und Identifikation zu be­lassen. Der Feststellungsbescheid wurde somit abgeschlossen und ord­nungsgemäß durch die Anwesenden unterschrieben.

(13. Februar 1973)«

Einige Tage später teilte der Arzt Ibo mit, daß man seine erfrore­nen Zehen amputieren müsse. Ibo antwortete, daß er dies nicht zulassen würde. »Bindet meine Hände und meine Füße los, dann wird es schon besser«, sagte er zu dem Arzt. Noch einmal forderte der Arzt Ibo auf, die Einwilligung für die Zehenamputation zu unter­schreiben, und wieder weigerte Ibo sich mit der Begründung, daß, wenn man ihn von den Ketten befreie, er sicherlich genese.

Es war Essenszeit. Sie lösten seine rechte Hand. Ibo berührte ei­nen seiner rechten Fußzehen. Er sah, daß der Nagel vom Zeh abge­fallen war. Dann zog er einen Fußnagel nach dem anderen heraus. Nichts Lebendiges war mehr an seinen Füßen. Voller Haß und Wut dachte Ibo daran, wie ihn der Oberleutnant Fehmi stunden­lang im vereisten Kutu-Bach hatte laufen lassen.

 

Danach schlief Ibo ein. Sie hatten ein starkes Schlafmittel in sein Essen getan. Als er am nächsten Morgen aufwachte, verspürte er ei­nen Schmerz an seinen Füßen. Sie waren verbunden. Sie hatten die erfrorenen Zehen amputiert, während er schlief ...

Innerhalb weniger Tage erholte Ibo sich erstaunlich gut. Obwohl er angekettet lag und durch so viel Leid gegangen war, bekam sein Gesicht wieder Farbe, erwachte wieder zum Leben. Doch die Ver­hörer warteten auf ihn. Gleichzeitig aber, waren sie auch erschreckt und unsicher und entwarfen Pläne, um seinen Willen zu überlisten.

 

Ein Soldat aus dem Krankenhaus begann, heimlich Kontakt zu Ibo aufzunehmen. Er war ein Mann, der von armen Bauern ab­stammte. Ibo war mißtrauisch, wollte aber doch angesichts seiner Lage jede Chance offenhalten. Ständig dachte er an Flucht. Und das war, wenn überhaupt, nur jetzt möglich. Seine alte Kraft war, wenn auch nur zum Teil, wieder hergestellt.

 

In dem Brief, der mit der Zeile »Ich habe meinen Freunden einiges mitzuteilen« beginnt, redet Ibo erst von den Vorgängen in Vartinik, von seiner Gefangennahme, erzählt, daß ihn die Gendarmen »fürch-terlich verprügelt« hätten, und daß er jetzt, nachdem man ihn eine Zeitlang herumgereicht habe, im Krankenhaus sei. Weiter heißt es:

 

»Die Wunden an meinem Kopf und meinem Hals sind in 20 Tagen verheilt. Folgendes will ich noch sagen: In verwundetem Zustand ha­ben sie mich in der ersten Woche an beiden Armen an den Bettrahmen gespannt wie an ein Kreuz, und erst auf ständiges Drängen wurde eine der Handschellen gelöst. Jetzt liege ich mit einer Hand an den Rahmen gekettet. Am 24. Januar sind wir überfallen worden. Am 22. Februar haben sie mich an beiden Füßen operiert. An meinem rechten Fuß ist mir kein Zeh geblieben. Es sieht nicht rosig aus. An meinem linken Fuß haben sie mir zur Erinnerung den kleinen Zeh gelassen. Die Behand­lung dauert noch an; ich weiß nicht, wann ich gesund sein werde. Die Arzte gehen von dem 15. des kommenden Monats aus. Zur Zeit wäre ich gar nicht in der Lage aufzustehen, doch die Handschelle lassen sie immer noch dran.

 

Der Staatsanwalt ist gekommen und hat mich erkennungsdienstlich behandelt. Er wartet, daß ich gesund werde, damit er mich verhören kann. Außerdem habe ich bei der Polizei ein paar Sachen mitbekom­men: Der Staatsanwalt sagte, daß sie unser Haus in Ümraniye ausfin­dig gemacht hätten. Ein anderer Polizist hat mich mit >Asur< angeredet. Noch ein anderer Polizist sagte, daß eine Medizinstudentin umgekom­men sei. Und der Staatsanwalt wiederum hat mich mit <Musa< und >Hamza< angeredet. Noch ein anderer Polizist sagte, daß Hikmet aus Capa festgenommen worden sei. Ich kenne den Hikmet aus der Schule, wußte aber nicht, daß er mit revolutionären Kreisen etwas zu tun hat. Sie haben eine Gegenüberstellung mit mir und meinem Schulfreund Mehmet Cetin gemacht. Er soll seit Januar einsitzen. Außerdem hat die Polizei mir einen gezeigt, der aus Siverek sein soll. Angeblich sollen Waffen far uns gekommen sein, und er hätte sie an der Grenze holen sollen. In einer Tour haben sie ihn geprügelt. Er hat gesagt, daß er mich kennt, daß ich Musa sei und daß ich in seinem Haus übernachtet hätte, obwohl ich ihn überhaupt nicht kenne. Und Musa bin ich auch nicht. Außerdem sollen sie einen aus Siverek festgesetzt haben, Serdar oder Seyithan soll er heißen. Ich habe nur davon gehört. Nach 15 Tagen soll er geredet haben (im Januar ist er wohl gekommen). Er soll ziemlich viel gesagt haben. Und dann sollen noch einige Leute aus Siverek hier einsitzen, die was mit unserer Sache und wahrscheinlich auch mit Seyi-thans Gerede zu tun haben. Aber ich habe keine Ahnung, wer und wie viele sie sind.

 

Ich kann hier weder Radio hören noch Zeitung lesen. Die Gefange­nen in Polizeihaft und die anderen Gefangenen hier können auf dem Gang herumlaufen. Auch Radio können sie hören. Die Tür von mei­nem Zimmer zum Flur hin ist abgeschlossen. Ich habe also überhaupt keinen Kontakt zur Außenwelt. Ich denke, daß sie einige Revolutionä­re aus Tunceli gefangen haben.

 

Freunde, ich habe überhaupt nichts anständiges anzuziehen. Geld ha­be ich auch nicht. Ich hatte 200 Lira - die sind jetzt bei der Polizei. Ich brauche von Euch zwei Garnituren Unterwäsche, ein Paar Schuhe Größe 42, Strümpfe, einen Schlafanzug, ein Oberhemd (oder Pullover), ein Jacket und Hosen. Meine Maße kennt Ihr. Schickt mir mindestens 500 (fünfhundert) Lira. Wenn mein Vater in der Lage wäre, es zu schicken, würde ich ihn fragen. Seine Situation ist sehr schlecht. Gebt die Sachen in Ankara auf und schreibt als Absender meinen Vater drauf. Seid vorsichtig, wenn Ihr meinen Vater besucht, er ist vielleicht in Haft.

Freunde, das andere, was ich von Euch will, ist folgendes: Erstens: Ihr müßt Eure Vorsichtsmaßnahmen gegenüber der politischen Polizei weiter verbessern. Im Moment sind die insbesondere hinter uns her. Zweitens: Ihr müßt Eure Kader in allerkürzester Zeit und auf bestmög­lichste Art bewaffnen. Das hat absoluten Vorrang. Von den revolutio­nären Massen kommt diesbezüglich auch Kritik. Drittens: Bezogen auf den ersten Punkt: Schmeißt alle raus, die bei der Polizei auspacken. Viertens: Baut in unserer Region die Organisation neu auf und gebt ihr gute Grundlagen. Fünftens: Erlaubt in keinem Bereich unserer Bewe­gung Verwahrlosung, Trägheit, Feigheit und Bequemlichkeit im Kampf. Jeden, der dahin tendiert, müßt Ihr mitleidlos hinauswerfen. Auch wenn wir wenige sind, laßt uns entschieden und stark sein. Sechstens: Sollte es welche geben, die aufgrund der Rückschläge der letzten Zeit Niedergeschlagenheit und Mißtrauen in unsere Reihen bringen, so laßt einen derartigen Defätismus nicht zu. Rückschläge und Verluste gibt es immer. Die Revolution ist nicht wie der gerade Boulvard von Nevski. (Schließlich: Unsere letzten Verluste entstanden daraus, daß ei­ne Person ihre Wachpflicht vernachlässigt hat. Und noch ein Fehler: Obwohl sehr viele Menschen wußten, wo wir uns aufhielten, sind wir weiter dort geblieben.) Siebtens: Der bewaffnete Kampf darf nicht un­terbrochen werden. Was uns weiterentwickelt und stärkt, ist genau dies. Achtens: Entscheidet über unser Presseorgan je nach der Situation.

 

Neuntens: Macht Leute in Diyarbakir ausfindig und bemüht Euch um Wege, mündlich oder schriftlich Kontakt mit mir aufzunehmen. Zehntens: Macht Fluchtwege ausfindig und versucht, mich hier heraus­zuholen. Mir ist die Todesstrafe oder mindestens lebenslänglich sicher. Ich grüße Euch, küsse Euch sehnsüchtig die Augen. Ich wünsche uns ei­nen Kampf, noch geballter, noch stärker, noch entschiedener. Lebt wohl.

Euer Freund



 

 PS: 1. Von mir ist nichts schriftliches in ihre Hände gekommen.

2.Meine Adresse: Ibrahim Kaypakkaya, Haftanstalt des Ausnah­mezustandes Diyarbakir...«

 (Aus den Gerichtsunterlagen zum TKP-ML-Prozeß

Brief mit der Überschrift »Ich habe den Freunden etwas mitzuteilen«

 

»Ein Bild bleibt vom Scheidenden, man hängt es an die Wand,

langsam vergessen wird es dort. Deine Stimme werden Menschen hören Bis an den letzten Tag,

Frisch wie der Morgen,

Süß wie der Honig,

 und müde

und hingebungsvoll

 und heldenhaft."

A.Kadir

 

Ibo sah den Soldaten, dem er den Brief zum Hinausschmuggeln gegeben hatte, nicht wieder. »Entweder er war Polizist, oder sie ha­ben ihn geschnappt und getötet«, dachte er.

Er hatte von vornherein die Möglichkeit mit einbezogen, daß der Soldat Polizist sein könnte und seinen Brief entsprechend abgefaßt, hatte über seine Lage Auskunft gegeben, hatte erzählt, was er ge­hört und gesehen hatte und allgemein seine Wünsche bekundet. Doch daß der Soldat vielleicht kein Spitzel war, sondern festge­nommen worden sein könne, erfüllte ihn mit Sorge.

Ibos >Verdacht< sollte bestätigt werden. Der Soldat, der Verbin­dungen mit ihm aufgenommen hatte, war ein >Nachrichtenkurier< des Geheimdienstes.

In einem als >geheim< abgestempelten Bericht mit der Nummer IST: 7130-724.73/1974 vom 6. März 1973, unterschrieben mit »Ge­neralleutnant Sükrü Olcay, Kommandant der Ausnahmezustands­verwaltung Diyarbakir«, heißt es diesbezüglich:

 

»Der Brief, den der Anarchist Ibrahim Kaypakkaya während seines Haftaufenthaltes   im   Militärkrankenhaus   am   28. Januar   1973   an ......... Assistent an der Technischen Hochschule Istanbul, geschrieben

hat, wurde aufgrund der amtlichen Prüfung beschlagnahmt. Es wurde beantragt, ein Gutachten über Form und Inhalt des Briefes einzuholen.

 

(b) In dem Brief, in dem sich der Anarchist Ibrahim Kaypakkaya an sei­ne Freunde wendet, ist der Teil, in dem 10 Instruktionen formuliert sind, von großer Bedeutung. Die Instruktion, »Macht Fluchtwege aus­findig und versucht, mich hier herauszuholen. Mir ist die Todesstrafe oder mindestens lebenslänglich sicher« bezieht sich auf den Angeklagten selbst und veranlaßt die Kommandantur, die Sicherheitsmaßnahmen nochmals zu verstärken. Zusätzlich zu den bereits vorgenommenen Si­cherheitsvorkehrungen wurden MIT*-Verbindungspersonen in das Krankenhaus geschleust und so seine Flucht bzw. eine Befreiung un­möglich gemacht.«

 

Zum gleichen Vorgang hatte der MIT folgenden Bericht zu Ibos Akte gelegt:

 

»— Einige Zeit, nachdem er in das genannte Krankenhaus eingeliefert wurde, begann er nach Möglichkeiten zu suchen, Verbin­dung mit der Außenwelt aufzunehmen. Ein derartiges Verhalten wurde jedoch von unserer Seite (Dyb. B. D. Bsk. *) erwartet: Entsprechend wurde eine Person darauf angesetzt. - Wie erwartet, machte I. Kaypakkaya den Versuch, dieser Person einen an ....... Assistent an der Tech­nischen Hochschule in Istanbul, adressierten Brief, zu geben, den diese bei der Post aufgeben sollte.

 

- Um das Verhalten von ....... nach Erhalt des Briefes zu observie­ren, wurde die Operation fortgeführt. Der genannte Brief wurde mit ei­nem Kurier in dem Flugzeug der Ausnahmezustandskommandantur Diyarbakir an die

 

Ausnahmezustandskommandantur Istanbul gesandt; von dort erreichte er unsere dortige Abteilung (Ist.B.D. Bsk.).

- Unsere Leitung ließ den Brief in angemessener Form an ...... aus­händigen; unmittelbar darauf wurde mit der Observation der o. g. Per­son begonnen.

- Nach einwöchiger Observation wurde ...... festgenommen, und es wurde mit dem Verhör begonnen.

 

- ....... der nicht abstritt, daß er eine sozialistische Weltanschauung

habe und während seiner Studienzeit auch entsprechend aktiv gewesen sei, erklärte, daß er aus Mitleid mit I. Kaypakkaya daran gedacht habe, ihm die gewünschten Sachen zukommen zu lassen, daß er ferner Arslan Kilic, den er von der Schule kannte, aufsuchen wollte, um diesem zu sa­gen, daß er einen derartigen Brief nicht noch einmal bekommen wolle. Er habe aber Arslan Kilic nicht angetroffen.

- ...... der sich sehr betroffen und erschreckt verhielt, sagte aus, daß er I. Kaypakkaya 1968 im Rahmen der Arbeit in der Studentenvereinigung der Universität kennengelernt habe; er haben ihn jedoch seit jener Zett nicht mehr gesehen.

Des weiteren sagte er aus, daß er sich nicht vorstellen könnte, wie und wo I. Kaypakkaya seinen Landsmann >......< kennengelernt ha­ben könnte und woher I. Kaypakkaya wissen konnte, daß >.,...< und er Freunde waren.

Daraufhin wurden Ermittlungen über die o. g. Personen eingeleitet und Informationen von unserer Abteilung in Diyarbakir erbeten.

— Die erhaltenen Informationen waren folgende:

I. Kaypakkaya hat den Offiziersanwärter ...... im Krankenhaus

zufällig kennengelernt; hat ferner, als er hörte, daß dieser aus Nazilli stamme, gefragt, ob er ...... kenne; er hat jedoch in Gegenwart

von ..... in bezug auf eine Befreiung nichts geäußert....«

Sie hatten in Ibos Brief nicht gefunden, was sie suchten, doch die Sicherheitsvorkehrungen im Krankenhaus wurden aufs äußerste verschärft.

Im Bezirk Tunceli hatten die Suche nach Ibos Spuren und die militärischen Operationen mit Ibos Gefangennahme noch längst kein Ende gefunden.

Sie hatten ihn gefaßt, aber wie hatte er so lange in der unwirtli­chen Gegend ausharren können? Wer hatte ihm in welchen Win­dungen dieser Landschaft die Hand entgegengestreckt? Es interes­sierte nicht, warum jemand ihm geholfen  hatte, wichtig war, wer es war und wie das geschehen war. Aus dem Grunde mußten sie in den Düzgün-Bergen, in Tunceli, Nazimiye, Antep, Malatya, Siverek noch lange seinen Spuren folgen. Und das taten sie...

 

Ein Lächeln in einem Dorf, eine Kameradschaft auf einer Hoch­ebene, ein nächtliches Gespräch in dem Haus eines Hirten, ein Mahl auf einem Dreschplatz, ein paar wollene Strümpfe, an einem kalten Wintertag verschenkt, eine Wegbeschreibung, ein Händeschütteln, ein übermittelter Gruß. ... Nach allem wurde peinlich genau gefragt.

 

Viele nahmen sie mit auf die Polizeistation als »Helfer«, »Kom­plize«, als jemand, der den »Banditen den Weg gezeigt, ihnen Un­terkunft gegeben, Brot gegeben, sie gegrüßt« habe. Dort band man ihnen hinter verschlossenen Türen die Augen zu und verhörte sie: »Ihre Aussage wurden aufgenommen ...«.

 

 

Dann brachte man sie nacheinander zur Gegenüberstellung mit Ibo ins Krankenhaus.

Was der Staatsanwalt diese armen Menschen, die er aus Berg und Tal, aus Stadt und Land zusammengesammelt hatte, »gestehen ließ«, wollte er auch Ibo unterschieben.

Ibo aber änderte sein Verhalten nicht. Mitleidig begegnete er den armen Bauern, die zur Gegenüberstellung ins Krankenhaus ge­schleppt wurden. Voll innerer Anteilnahme schaute er ihnen in die Augen.

 

Die erste Gegenüberstellung fand am 12. März 1973, dem »Jah­restag des Memorandums«*, statt. Während die bourgeoise Presse von »Bedeutung und Verdienst« des Memorandums faselte, das Radio die »schrittweise Rettung der Heimat« anpries und auf den Straßen »Gedenkfeierlichkeiten« stattfanden, trat um 10.30 der Staatsanwalt Yasar Degerli zusammen mit einigen ärmlichen Bau­ern in das Zimmer, in dem Ibo immer noch verletzt und angekettet lag.

Danach stand folgendes im Protokoll des Staatsanwalts:

 

»Zum Zweck der Gegenüberstellung mit Ibrahim KAYPAKKAYA, dem vorgeworfen wird, einer der führenden Personen der TKP/ML-Organisation zu sein und der immer noch aufgrund seiner Verletzun­gen im Militärkrankenhaus in Behandlung ist, fand man sich am 12. März 1973 um 10.30 im Krankenhaus in Begleitung folgender Perso­nen ein: Haydar Mecit, geboren 1947 als Sohn des Süleyman, dessen Identitätskarte von Ibrahim Kaypakkaya für seinen eigenen Gebrauch verwendet und entsprechend verändert wurde, Hidir KARAGÜL, Mehmet SARIKAYA und Hüseyin SARIKAYA, alle drei wohnhaft in der Niederlassung Barikbasi des Dorfes Gökceköy im Bezirk Tunceli; ihnen wird vorgeworfen, Ibrahim KAYPAKKAYA Unterschlupf ge­währt zu haben.

 

Zunächst wurde Haydar Mecit in das Zimmer geführt, in dem der Angeklagte Ibrahim Kaypakkaya lag. Haydar Mecit wurde der Ange­klagte Ibrahim KAYPAKKAYA gezeigt. Er sagte aus, daß er den Na­men dieser dort liegenden Person nicht kenne, daß dies jedoch die Per­son sei, die ihm in der Gegend seines Dorfes, gemeinsam mit Haci Özdogan, seine Identitätskarte abgenommen und nicht wiedergegeben ha­be. Er könne sich ohne Zweifel in allen Einzelheiten an das Äußere die­ser Person erinnern. Er bestehe nochmals darauf, daß dies die Person sei, die seine Identitätskarte an sich genommen habe. Er meine damit jedoch nicht, daß diese Person persönlich seine Identitätskarte genommen hätte, das habe der anwesende Haci ÖZDOGAN getan. Da später seine Identitätskarte, versehen mit dem Bild des Angeklagten gefälscht wor­den sei, könne man davon ausgehen, daß auf seinen Befehl hin die Identitätskarte abgenommen wurde.

 

Anschließend wurde Ibrahim KAYPAKKAYA zu dem Vorgang be­fragt: Er sagte aus: Ich kenne weder diese Person noch Haci Özdogan und habe die Identitätskarte in Malatya gefunden: Ich wurde von der Ausnahmezustandsverwaltung gesucht, denn ich verfolge die Ziele des Proletariats. Ich bin jemand, der sich nach Kommunismus sehnt, besser gesagt, sich diese Ideologie zu eigen gemacht hat und dieses Ziel ver­folgt. Um meine wahre Identität zu verbergen, habe ich die Identitäts­karte von Haydar Mecit mit meinem eigenen Paßphoto versehen. Das ist der Klassenkampf, das ist meiner Meinung nach normal, sonst kommt man nicht weiter. Haydar Mecit macht diese Aussage, weil man ihn unter Druck gesetzt hat. Falls dies nicht so ist, dann lügt Haydar Mecit aus einem mir nicht bekannten Grund.

 

Haydar Mecit entgegnete, daß man ihn keinesfalls unter Druck ge­setzt habe und daß er keinen Grund sehe, warum er lügen sollte. Er ha­be diese Person vor dem o. g. Vorgang nicht gekannt, warum sollte er dann lügen.

 

Haci Özdogan jedoch sei ein guter Bekannter aus seinem Dorf. Er selbst habe in dem o. g. Vorgang nicht bewußt gehandelt. Imfolgenden wurden die anderen Angeklagten Hidir KARAGÜL, Hüseyin SARI-KAYA und Mehmet SARIKAYA einzeln hereingerufen, und man zeigte ihnen den liegenden Angeklagten Ibrahim KAYPAKKAYA. Sie sagten einstimmig aus, daß sie diese Person weder in dem Dorf Gökce noch in der Niederlassung Barikbasi gesehen hätten. In diesem Punkt seien ihre vorhergehenden Aussagen falsch, d. h. in einer von ihnen nicht ausgesagten Form protokolliert worden.

 

Sie wüßten nicht, warum sie es hätten verschweigen sollen, wenn sie diesen Fremden gesehen und ihm zu Essen gegeben hätten. Anschließend wurde Ibrahim KAYPAK­KAYA befragt. Er sagte aus, daß er diese Personen, die ihm zunächst einzeln und dann gemeinsam gegenübergestellt worden seien, nicht ken­ne und daß er auch nichts über den Vorgang wisse, zu dem sie befragt worden seien.

 

Er habe sie niemals getroffen. In der Zeit zwischen dem 24. 1. 1973, an dem er bei dem Zusammenstoß verletzt wurde, bis zum 29. 1. 1973, als er halberfroren festgenommen wurde, habe er sich von Brot ernährt, das er vorher schon bei sich getragen habe. Da er verwun­det und erschöpft gewesen sei, habe er sowieso außer Brot nichts essen können. Seiner Meinung nach seien diese drei Personen, zu denen er keinerlei Beziehung habe, grundlos und rechtlos festgehalten worden, und er sehe es als einen Akt von Terror an, daß man sie hierher ge­bracht habe.

 

Als Antwort auf diese Aussage wurde er über die gesetzlich vorge­schriebenen Methoden bei einem Verhör sowie über die Rechtmäßigkeit der Verfolgung Schuldiger u. ä. aufgeklärt.

Hiermit wurde die Gegenüberstellung abgeschlossen und das Proto­koll per Unterschrift beglaubigt.

12. März 1973«

Und jetzt kam, worauf alle Folterer gewartet hatten. Es wurde be­schlossen, daß Ibo vernehmungsfähig sei. Man holte ihn aus dem Krankenhaus und schleppte ihn mit zusammengeketteten Händen und Füßen in die Folterkammern von Diyarbakir.

 

»... Du hast dich in meiner Seele festgesetzt

 ey Unterdrückung

 deren feinen Schmerz

 wie Sand

 ich getragen habe,

die amerikanische Schlinge um meine Leisten schreiend, schreiend nächtelang

 stocksteif unbeweglich

Mich Blut pissen lassende...«

                                    A.Arif

 

Türkei des Jahres 1973 bestand aus vielen, vielen dunklen Gängen, aus Gängen mit Blut und Menschenschreien. Mit Häft­lingsringen an den Wänden. Ketten... Eisengittern. An den Wän­den Bilder von gefolterten Menschen, deren Gesichter nicht wie­derzuerkennen waren. Angemietete Arbeiter, die das Blut wegzuwi­schen hatten, Todeswächter in Ärztekitteln. Menschen, die die Ver­bindungsstücke der elektrischen Kabel an Hals, Nacken, Mund, Ohren, Hinterkopf und

Geschlechtsorganen befestigten; bestiali­sche Gewichte, die man denjenigen, deren Fußsohlen aufgeplatzt waren, auf den Rücken setzte; doppelzüngige Moralapostel...

 

Räuber mit blutigen Händen drückten um 1973 den Menschen in der Türkei die Kehle zu. Jedes Lächeln, selbst das auf den Lippen der Kinder, hatte man erstarren lassen. Die Türkei um 1973 be­stand aus Schlägen, die der denkende Kopf einstecken mußte, aus Zellen, deren finstere Leere mit Wissenschaftlern, Arbeitern, Bau­ern, Studenten und Schriftstellern gefüllt wurde.

 

In die seit Jahren schon blutende Brust Anatoliens fügte diese Zeit neue, frische Wunden; von neuem

tummelten sich Banditen auf der seit Jahrtausenden geplünderten Erde Anatoliens.

In der Türkei dieser Zeit wurden die Lichter ausgeschaltet, und die Nächte erschütterte das Gelächter der Mörder.

 

Die Menschen waren selbst hinter verriegelten Türen nicht si­cher. Mütter trennten sie vom Sohn, Bräute vom Bräutigam, Lesen­de vom Buch, die Arbeit von der Maschine. Es war nicht erlaubt, auf Recht zu pochen; verbannt waren Worte, die vom Hunger, von Armut, vom Schmerz sprachen. Feindselig schauten sie selbst die Kinder in den Wiegen an ...

 

In der Türkei um 1973 war der Dolch getrennt vom Handge­lenk, das ihn fassen wollte ...

So sah es aus in diesem Land, in Istanbul, Ankara, Sivas, Diyarbakir, Agri ...

Einer der Freunde, die sich in die einsamen Berge retteten, als Ali Haydar und Ibo verletzt zurückblieben, sagte in Anwesenheit des Staatsanwaltes Yasar Degerle bei der Staatsanwaltschaft folgendes aus:

 

 

»... Wir sind von den brutalsten Kräften des Faschismus festgenom­men und verhört worden. Mit Strafen belegt, die sie schon vorher ge­fällt hatten, sind wir hierher verschleppt worden. Wenn das Gericht, das behauptet, im Namen des Volkes und der Unabhängigkeit zu spre­chen, weiß, wie diese Aussagen zustande kommen, wird dies zeigen, bis zu welchem Grad die Behauptung des Staatsanwaltes zutreffend ist.

 

Die Kräfte des Faschismus, die die Guerilla bekämpfen, nahmen mei­ne Aussage in den Folterkellern von Harbiye auf. Zwei Monate dauerte die Vernehmung. In den ersten 15 Tagen folterten sie mich auf das schwerste. Sie wollten mich zwingen, mich zu einem Bombenattentat auf den Gendarmerieposten von Tunceli, der Ermodung zweier Gen­darmeriesoldaten, den Raubüberfall auf das Haus eines Obersten zu be­kennen. Alles Dinge, die nicht zutreffen. Sie zogen mich nackt aus, leg­ten Ketten um meine Füße und hängten mich in der Luft auf. Sie gössen eiskaltes Wasser über mich und schlugen mich ohne Unterlaß mit eiser­nen Knüppeln. Als meine Beine blau wurden und anschwollen, häng­ten sie mich an den Armen auf und schlugen mich wieder mit eisernen Knüppeln. Überall an meinem Körper quoll Blut aus den Wunden von den Schlägen.

Wenn heutzutage auf den Innenseiten der Augenlider eines Men­schen, auf seinen Brustwarzen Zigarettenkippen ausgedrückt werden, wenn man die empfindlichsten Körperteile eines Menschen Stromstößen und gleichzeitig der Bastonade aussetzt, wenn man den Kopf eines Menschen in einem fort gegen Wände schlägt, um ihn verrrückt zu ma­chen, wenn man seinen Körper mit Nadeln durchsticht, dann zeigt das, wie sie heute die Gestaposeele wieder aufleben lassen und welchen irra­tionalen Haß sie gegen den Kampf des Volkes schüren.

 

Ehrlich gesagt, ich schäme mich, hier von der Folter zu erzählen, der sie mich unterworfen haben. Denn all das, was ich erzählen müßte, lie­ße sich mit Moral, Würde und persönlicher Ehre des Menschen nicht vereinbaren. Ich kann nur sagen, daß ich am Ende halb im Koma lag. Jeder Teil meines Körpers war gefühllos; ich konnte meine Augen nicht mehr öffnen, meine Zunge war angeschwollen und schwer. Als es ir­gendwann soweit war, daß die Folter keine Wirkung mehr zeigte, wollten sie mich psychisch unter Druck setzen: Vor meinen Augen quäl­ten sie Freunde wie Hanife Canik, Cem Somel und Süleyman Yesil* mit Stromstößen und Bastonade. Einen der Freunde zwangen sie sogar unter Stromstößen, mich zu beschimpfen.

 

Nachdem ich eine ganze Reihe von falschen Anschuldigungen zu­rückgewiesen hatte, sagte einer der Folterer: >Wenn du nicht redest, dann bringen wir dich zum Reden.< Er nahm die unter Folter erpreßte Aussage eines Freundes, der im gleichen Gebiet wie ich gearbeitet hatte, tippte sie in etwas veränderter Form und legte sie dem Staatsanwalt vor. Das war die erste Aussage bei der Staatsanwaltschaft.

Zwei Tage später brachten sie mich wieder nach Harbiye. Don blieb ich eineinhalb Monate. Ich will hier nicht erzählen, was sie alles mit mir in diesen eineinhalb Monaten gemacht haben, nur eins: Zum Toi­lettengang wurden mir die Augen verbunden, ein Soldat setzte sich auf meinen Rücken und lenkte mich an den Ohren.

 

Am 55. Tag der Folter verfaßte ich die handschriftliche Aussage, die sich in Ihren Unterlagen befindet und die mir Zeile für Zeile diktiert wurde. Auf der Grundlage dieser Aussage hat mich Staatsanwalt Yasar Degerli zum zweitenmal verhört. Ich kann mich nicht erinnern, was er dabei geschrieben und was er mich gefragt hat. Doch ich verlange, daß er erklärt, in was für einem Zustand ich zu der Zeit war...

 

Ich werde mich hier auch nicht über die Folterer beschweren... Denn das Foltergerät und das Folterpersonal sind ein Teil des herrschenden Staatsapparats. Es gibt nur eine Instanz, bei der ich Klage führen würde, und das ist die unerschöpfliche revolutionäre Kraft unseres Volkes.

Eine andere Sache, dir mir in Harbiye noch aufgefallen ist: Während ich dort an Armen und Beinen angekettet war, tauchte einmal ein langer, blonder Amerikaner an meiner Kopfseite auf, der von einem der Folterer Erläuterungen bekam...«

Tag und Nacht, ohne Unterlaß wurde Ibo in den Folterzentren von Diyarbakir verhört. Gegen Morgen wurde er aus der Folter­kammer wieder zurück zu den Zellen in die Haftanstalt gebracht, wie ein Stück Mist in seine Zelle Nummer drei geworfen und fest­gebunden. Am nächsten Tag dann die gleiche Prozedur.

 

Tage, Wochen dauerte das an.

 

In seinem Körper, der immer stärker geschunden, getreten, ge­fesselt, durch Strom erschüttert wurde, trug er sein Herz, das kein Ermüden, kein Beugen, kein Unterwerfen kannte. Die Verhörer hatten sein Fleisch und seine Knochen in den Händen, hatten sie in Ketten gelegt. Doch an sein Herz kamen sie nicht heran. Ibos Be­wußtsein ließ alle verblüfft zurück, die ihn auf die Fußsohlen schlu­gen, an elektrische Kabel banden, mit Eisenknüppeln prügelten.

 

Viele der Gefangenen in den Zellen verfolgten die Fußschritte, die Gespräche und das Gebrüll mit brennender Sorge, aber auch mit einem begeisterten Gefühl des Stolzes, wenn Ibo wiederge­bracht wurde.

Viele Soldaten, die mit dem Transport von Ibo beauftragt waren und viele Wärter, die auf ihn aufpaßten, konnten ihre Bewunde­rung nicht verheimlichen und erzählten flüsternd ihren Freunden davon. In Wellen verbreiteten sich die Geschichten von Ibo, aus den Zellen erreichten sie das Gefängnis; von dort erfuhren es die Besucher, und weiter hallte es von Stadt zu Stadt. Es gab hohe Of­fiziere, die bis zu Ibos Zelle kamen, um diesen jungen Mann mit dem eisernen Willen zu sehen.

 

Die Angst, daß es ihnen nicht gelingen würde, Ibos Geheimnis mit Folter aufzudecken, erfaßte die Vernehmenden, brachte sie in Panik und auf finstere Gedanken.

Diesmal brachten sie nacheinander all die anderen Gefangenen, die in den Folterkammern auf gleiche Art ihre »Aussage gemacht« hatten, zur Gegenüberstellung mit Ibo. Sie wollten Ibo zeigen, daß sein »Schweigen keinen Sinn« habe.

»Sie haben schon alles zugegeben; streng dich nicht umsonst weiter an!« sagte der Staatsanwalt Yasar Degerli, wenn er zur Ge­genüberstellung zu Ibo kam.

 

Nach und nach brachte der Staatsanwalt 16 Personen zur Ge­genüberstellung. Über Ibos Lippen kam kein einziger Hinweis, ob er sie kannte. Und alle 16 Festgenommenen, die zur Gegenüberstel­lung kamen, sahen mit größter Bewunderung den zürnenden Ibo, wie er sich aufrichtete und sich ihnen entgegenstellte. Er wider­stand.

Einige von ihnen waren im Moment der Gegenüberstellung der­art von Ibos Haltung beeindruckt, daß sie noch dort in seiner Ge­genwart die Aussage bezüglich Ibo, die man von ihnen aufgenom­men hatte, widerriefen. Das brachte die Verhörer noch mehr in Pa­nik. Es blieb nicht dabei, daß Ibo selber schwieg. Sein Schweigen, seine unnachgiebige Haltung, seine Unbeugsamkeit, seine uner­schrockene Hoffnung wirkte auch auf seine Umgebung.

Es wurde Mai...

 

 

»... Überall, wo du hingehst,

 erzähl von dieser Folter,

 erzähl von deinem Bruder,

 der in dieser Hölle lebt.

 Erzähl es den anderen Brüdern, genau so.,.!«

P.Neruda

 

Im folgenden einige Auszüge aus den Protokollen der Gegen­überstellungen, diktiert vom Staatsanwalt Yasar Degerli:

»Der Beschuldigte Ibrahim KAYPAKKAYA bestritt, im Bezirk Tunceli organisierte Arbeit gemacht zu haben und dort über entsprechende Kontakte zu verfügen. Er behauptete, etwa 10 Tage vor dem Zusam­menstoß, d. h. dem 24. Januar 1973, zum erstenmal nach Tunceli ge­kommen zu sein. Um Gegenteiliges - d. h., eine schon frühere Beteili­gung des Beschuldigten an Aufklärungsarbeiten und Kaderbildung -nachzuweisen, wurde der Beschuldigte All YILDIZ, der sich in seinen Aussagen auf den Beschuldigten bezieht, für eine notwendige Gegen­überstellung aus dem Gefängnis herbeigeholt. Zunächst wurde Ibrahim KAYPAKKAYA in den Raum gebracht, dann All YILDIZ gerufen und ohne Namen oder einen der Kodenamen zu nennen, wurde Ibra­him KAYPAKKAYA diesem gezeigt.

 Daraufhin sagte erfolgendes aus: >Dies ist die Person, die ich in meiner Aussage vom 11. Februar 1973 als >Hamza< bezeichnet habe. Er hat im Bezirk Tunceli Aufklärungsar­beit geleistet und uns die Grundbegriffe des Sozialismus gelehrt. Da­mals, also bei meiner ersten Vernehmung, hatten Sie mir ein Foto von Ibrahim KAYPAKKAYA gezeigt. Besser gesagt, ich hatte gesagt, daß die Person auf dem Bild, das Sie mir zeigten, >Hamza< sei. Und Sie hat­ten gesagt, daß das ein Kodename und sein wirklicher Name Ibrahim KA YPAKKA YA sei. Ich kann das, was ich in meinem Verhör bezüg­lich der Kontakte dieser Person sagte, wiederholen. Wie ich schon in meiner ersten Aussage erklärte, gab Hamza mir einen Brief, der zu Ali gebracht werden sollte. Um den Brief an ihn heranzutragen, sollte ich nach Siverek fahren und dort den Büchsenmacher Abdurrahman KES-KIN aufsuchen. Ergab mir die Anweisung, diese Person mit der Parole >Hast du den Gaskocher fertig?< anzusprechen. Meine diesbezüglichen Erklärungen kann ich auch wiederholen. Auch wenn ich, bevor ich hierherkam, unter Druck gesetzt wurde, beeinflußt das nicht meine Aus­sage oder veranlaßt mich nicht zu Falschaussagen.<

 

Wiederholt wurde Ali YILDIZ gefragt, ob seine Erklärungen bezüg­lich Hamza (Ibrahim KA YPAKKA YA) unter Druck oder infolge von Druck abgegeben wurden, und ob er unter Gewaltanwendung unwah­re Sachen hinzugefügt habe. Er entgegnete folgendermaßen:

 

>Auf verschiedene Arten wurde ich vorher schon schlecht behandelt. Nur in meinen Erklärungen bezüglich Hamza habe ich nichts gesagt, was nicht vorgefallen oder unwahr wäre. Davon kann nicht die Rede sein. Ich kann meine alte Aussage im gleichen Sinne wiederholen^ Ibrahim KAYPAKKAYA wurde zur Sache befragt. Er sagte aus: > Wie schon vorher gesagt, war ich nie in Tunceli. Ich habe in diesem Gebiet nicht organisiert gearbeitet.

 

Ich kenne Ali YILDIZ nicht. Ich denke, daß er unter Druck gesetzt wurde und so Aussagen über mich ge­macht hat.

Ich habe keinerlei Kontakt zu Ali YILDIZ gepflegt. Ich ha­be den Kodenamen >Hamza< nicht benutzt

Nochmals wurde Ali YILDIZ befragt.

 

Dieser gab folgendes an: >Hamza ist die mir gezeigte, hier mir gegenübergestellte Person, deren Personenbeschreibung ich schon abgegeben habe. Seinen wirklichen Namen kannte ich nicht, bis ich hierher kam.

 

Als Sie mir sein Bild zeig­ten und ich ihn daraufhin >Hamza< nannte, sagten Sie, daß es sich um Ibrahim KAYPAKKAYA handele. Auch jetzt sagen Sie, daß er Ibra­him KAYPAKKAYA sei.< Ali YILDIZ bestand auf seiner früheren Aussage. So wurde die Gegenüberstellung, bei der der Leiter des Ge­fängnisses der Ausnahmezustandsverwaltung, Pyb. * Ahmet BALDO-GAN und der im Gefängnis angestellte Top. Yd. Atgm.'" Mevlut KA-RAASLAN, die den Angeklagten gebracht hatten, anwesend waren, für beendet erklärt und durch die Anwesenden gemeinsam unterschrieben.

24. 4. 1973«

»Da es zu Widersprüchlichkeiten der Erklärung des Beschuldigten Ibra­him KAYPAKKAYA bezüglich seiner Aktivitäten für die Organisation im Bezirk Istanbul und den Aussagen des Beschuldigten Seyithan DOKAY gekommen ist, wurde zur Klärung dieser Widerspruche und zur eindeutigen Klärung, ob es sich bei der Person mit dem Kodenamen >Musa< um Ibrahim KA YPAKKA YA handelt oder nicht, der Angeklag­te Seyithan DOKA Y vorgeführt. Ihm wurde Ibrahim KAYPAKKAYA vorgeführt, ohne daß man dessen Namen nannte. Der Angeklagte Seyit­han DOKAY sagte folgendes aus:

 

>Ich habe in meiner Aussage vom 3. 2. 1973 den Namen Musa er­wähnt und habe ausgesagt, daß die Person, mit der ich in Istanbul zu­sammentraf und von der ich die Fotokopien des >Safak revizyonizmin tezleri< * bekam, >Musa< war. Die hier mir gegenübergestellte Person ist Musa. Daß der richtige Name Ibrahim KAYPAKKAYA ist, habe ich erst hier erfahren. Auch wenn ich die Person bei der Gegenüberstellung bei MIT als >Musa< bezeichnet habe, lag das an meinem seelischen Zu­stand; ich hätte jeden, den sie mir gezeigt hätten, als >Musa< bezeichnet. Diesmal aber erkläre ich ohne Zweifel: Die Person, die ich in meiner Aussage als >Musa< bezeichnet habe, und mit der ich in einem Organisa­tionszusammenhang stand, ist die mir gezeigte, von mir >Musa< und von Ihnen Ibrahim KAYPAKKAYA genannte. Darüber gibt es kein Versehen und keinen Zweifel.<

 

Seyithan DOKA Y wird an seine Aussage erinnert, daß Hamza OGUZER ihm gesagt hätte, daß KA YPAKKA YA ihn zu sich bestellte (Musa ihn zu sich bestellte).

Seyithan DOKA Y antwortete darauf, daß er aus diesem Grund auch nach Istanbul gekommen sei.

Der Beschuldigte Hamza OGUZER war zwecks einer gemeinsamen Erklärung bei der Gegenüberstellung anwesend. Auch seine Aussage wurde aufgenommen:

 

>Ja, ich bestätige, daß >Musa<, also Ibrahim KAYPAKKAYA Sey­ithan DOKA Y nach Istanbul rufen ließ. Er erzählte mir davon, und sagte, da ich ja in die Gegend Diyarbakir fahre, solle ich an Siverek vorbeifahren, um Seyithan über den Schneider Bekir EROK aufzusu­chen.

 

Er sollte dann zu ihm kommen und ihn über den Cafebesitzer Dur-sun finden. Ich fuhr nach Siverek und sagte Seyithan: >Musa ruft dich nach Istanbuls Meine diesbezügliche vorherige Aussage entspricht der Wahrheit.*

Auch der Angeklagte Ibrahim KAYPAKKAYA wurde gefragt.

 

Er sagte aus: >Ich kenne diese Person nicht, ich habe den Kodenamen >Musa< nicht benutzt. Diese Freunde sind lange Zeit gefoltert worden, dar­um sagen sie so aus.<

Die Angeklagten Seyithan DOKAY und Hamza OGUZER wur­den nochmals befragt, ob sie unter der Wirkung von Folter, wie seitens des Angeklagten Ibrahim KAYPAKKAYA behauptet, diese Aussage über Ibrahim KAYPAKKAYA (Musa) gemacht hätten. Seyithan DOKAY machte folgende Aussage:

>Ich mache diese Aussage über >Musa< nicht unter der Wirkung einer vorausgegangenen schlechten Behandlung. Ich sage es, weil wirklich der hier Anwesende die Person ist, die mir ah >Musa< bekannt ist. Ich ma­che diese Aussage unter Einfluß von niemandem; vielmehr will ich die Wahrheit aufzeigen. Ich kann meine frühere Aussage wiederholen^ Der Angeklagte Hamza OGUZER sagte das gleiche aus.

Die Gegenüberstellung wurde somit in Gegenwart des Direktors des Gefängnisses des Ausnahmezustands, P. Yb. Ahmet BALDOGAN und des Angestellten des Gefängnisses Top. Atgm. Mevlüt KARAASLAN beendet und das Protokoll unterschrieben, (gemeinsam)

24. 4. 1973«

»... Aufgrund von Ibrahim KAYPAKKAYAS Aussagen, die den in Istanbul zusammengetragenen Beweisen bezogen auf die Kontakte zur Organisation widersprechen, wurde Hamza OGUZER vorgeladen, der in seiner Aussage von den Kodenamen >Ahmet< und >Musa< des Ibrahim KA YPAKKA YA gesprochen hat. Ohne den Namen des schon vorher bestellten Ibrahim KAYPAKKAYA zu nennen, wurde dieser Hamza OGUZER vorgeführt. Daraufhin sagte dieser: >Die Person mit den Kodenamen >Ahmet< und >Musa<, die ich in meiner Aussage vom 2. Februar erwähnte, ist die mir hier gegenübergestellte Person.

Erst nachdem ich Kontakte hatte mit dieser Person, habe ich mitbe­kommen, daß ihr Name Ibrahim KAYPAKKAYA ist.

 

Entsprechend habe ich ihn auch auf dem mir von Ihnen gezeigten Foto identifiziert. Ich kenne diese Person unter den Kodenamen, die sie während der Ar­beit in der Organisation in Istanbul benutzte: >Ahmet< und >Musa<. Ich kann meine Aussage bezüglich des Beschuldigten und die Zusammen­hänge, über die ich Auskunft gab, im gleichen Sinne wiederholen^ Der Angeklagte Ibrahim KAYPAKKAYA entgegnete daraufhin: >Ich kenne den Freund, dem ich hier gegenübergestellt wurde, nicht.

 

Ich habe bei keinerlei organisatorischen Zusammenhängen mit ihm Kontakt gehabt. Und die Namen >Musa< und >Ahmet< habe ich nie be­nutzt^

Hamza OGUZER wurde nochmals gefragt. Er antwortete: >Ich habe den hier befindlichen Ibrahim KAYPAKKAYA unter den Kodenamen >Musa< und >Ahmet< in Istanbul innerhalb der Organisa­tionsarbeit kennengelernt. Darüber gibt es keinen Zweifel und kein Versehen.<

Er erklärte, daß er nichts weiteres hinzuzufügen hätte, und die Ge­genüberstellung wurde in Anwesenheit des Gefängnisdirektors P. Yb. Ahmet BALDOÖAN und des im Gefängnis angestellten Top. Atgm. Mevlüt KARAASLAN beendet erklärt und durch Unterschrift be­stätigt.

24. 4. 1973«

»... Entgegen den Aussagen der anderen Angeklagten, die schon vorher ihre Aussagen bezüglich der Kontakte von Ibrahim KAYPAKKAYA zu der Organisation und seiner diesbezüglichen Arbeit im Bezirk Tun-celi machten, gab dieser eine anderslautende Aussage ab. Er bestritt, im Bezirk Tunceli organisiert gearbeitet zu haben, sagte, daß er nicht >Hamza< sei.

Deswegen wurde der Beschuldigte Hayrettin IPEK vorge­führt, der sich in seiner Aussage auf den Beschuldigten, besser gesagt auf >Hamza< bezog. Ohne den Namen des vorgeführten Ibrahim KAYPAKKAYA zu erwähnen, wurde dieser Hayrettin IPEK gezeigt. Der Beschuldigte Hayrettin IPEK sagte daraufhin aus:

 

>Ich kann überhaupt keine Ähnlichkeit zwischen dieser hier befindli­chen Person und dem >Hamza< feststellen, den ich in meiner Aussage er­wähnte. Seine Augen ähneln denen von >Hamza<; ansonsten kann ich keine große Ähnlichkeit feststellen. Besser gesagt, ich kann es nicht mit völliger Bestimmtheit sagen.< Auf diese widersprüchliche Aussage hin wurde der Beschuldigte aufgefordert, sich noch einmal den Beschuldig­ten Ibrahim KA YPAKKA YA genauer anzuschauen, und ihm wurde eine Bedenkzeit eingeräumt. Danach erklärte Hayrettin IPEK:

 

»Die Person, die ich vorher >Hamza< nannte, ist diese. Ich bin jetzt völlig sicher. < Weitersagte er aus: >Das, was ich in meiner Aussage vom 12. 2. 1973 bezüglich >Hamza< erklärte, bezieht sich auf die hier befind­liche Person.<

Dem Beschuldigten Ibrahim KAYPAKKAYA wurde die Möglichkeit gegeben, dazu Stellung zu nehmen: >Ich bin vorher nie in Tunceli gewesen. Ich habe keine Aufklärungsarbeit gemacht. Diesbezüglich kann ich nur meine alte Aussage wiederholen.' Weiter sagte er aus: >Aus diesem Grunde kenne ich diese hier befindliche Person nicht.<

 

Nochmals wurde der Beschuldigte Hayrettin IPEK befragt; er sagte aus:

 

>Die Person, die ich in meiner vorliegenden Aussage >Hamza< nann­te, und deren Kontakte ich beschrieb, ist die hier befindliche Person. Sie haben sie mir schon vorher gezeigt, auch da habe ich sie als >Hamza< wiedererkannt. <

Weiter sagte er: >Nur jetzt hat sich >Hamzas< Stimme etwas verän­derte

Der Beschuldigte sagte, daß er nichts hinzuzufügen hätte, und so wurden in Anwesenheit des Gefängnisdirektors P. Yb. Ahmet BALDO-GAN und des Angestellten Top. Atgm. Mevlüt KARAASLAN die Er­klärungen festgehalten und durch Unterschrift bestätigt.

24. 4. 1973«

So bekamen sie auch in den Gegenüberstellungen nicht die ge­wünschte Aussage von Ibo. Später, während der Gerichtsverhand­lung, erzählten die Festgenommenen, die zur Gegenüberstellung herangeschleppt worden waren, von ihren Gefühlen in jenen Tagen und von den Dingen, deren Zeugen sie wurden, und sie erklärten vor Gericht in Anwesenheit des Staatsanwalts Yasar Degerli, wie und mit welchen Methoden man sie dazu gezwungen hatte, gegen Ibo auszusagen.

 

 

 

»... Seite an Seite, hochgewachsen

Blut von Kopf bis Fuß

Helden sind sie,

ein jeder von ihnen ein Stück Heimat

in ihren Augen

ein Wirbelsturm von Flüchen

ana avrat

ah-ulan...«

A.Arif

 

Tag für Tag, vom ersten Verhörtag an bis Anfang Mai, befaßte sich der Staatsanwalt Yasar Degerli mit Ibo, fragte und fragte... Bekam keine Antwort, fragte und fragte... erfolglos. Ibo wurde in seine Zelle Nr. 3 gebracht und wieder abgeholt, ge­bracht und abgeholt... Er gab nichts preis, brach zusammen, stand wieder auf... Beugte sich nicht... Von Anfang März bis Anfang Mai...

Die Verhörer fragten immer wieder das gleiche, und Ibo gab ih­nen immer wieder die gleiche Antwort. Seine Haltung vom Anfang hielt er bis zum Ende durch. Kein Name, keine mit anderen ge­meinsam durchgeführte Aktion; und kein In-die-Knie-Gehen vor den Anschuldigungen...

Die einzige Aussage von Ibo, die in den Gerichtsunterlagen ist, erzählt, wie sich seine Gedanken entwickelt haben. Er stellt Lösun­gen vor, die er sich für sein Land, für die Menschen seines Landes, für sein Volk vorstellt, legt die Methoden des Kampfes offen, die seiner Meinung nach befolgt werden sollten und beendet seine Worte folgendermaßen:

»Ich habe das, was ich bis hierher erzählt habe, fiir die Gedanken des Marxismus-Leninismus getan. Ich verspüre nicht die geringste Reue. Ich habe bei allem, was ich getan habe, die möglichen Konsequenzen mit-einberechnet und gekämpft, auch wenn ich damit mein Leben riskierte.

Schließlich bin ich gefangengenommen worden. Ich verspüre nicht die geringste Reue... (21. April 1973)«

 

Diese Haltung Ibos vesetzte alle, die seit dem 12. März Tausende von Menschen ins Verhör genommen hatten, die die Aussagen von Tausenden Menschen aufgenommen hatten, in Erstaunen. Ibo war eine der »harten Nüsse« unter den unzähligen Menschen, die ihnen in die Hände gefallen waren.

 

Je länger Ibo schwieg, desto mehr redete man über ihn. In den Gemeinschaftszellen der Gefängnisse, auf der Straße, im Cafe, im Bus, im Dorf... Worte über Hoffnung und Widerstand tauchten überall auf und breiteten sich aus.

Sollten sie, die so viele Menschen ins Verhör nahmen, bei Ibo ei­ne Niederlage einstecken? Sollten sie, die so viele Menschen ins Verhör nahmen, eines Tages Ibo vor Gericht zuhören müssen? Vor allem: Wenn einer hier derart schwieg:.... Wer weiß, was er nach­her dort alles sagt?

 

Es war schon fast Mai. Das Wetter hatte begonnen, sich zu er­wärmen; nur im Morgengrauen, in den nebligen Stunden, hielt die Kühle sich noch. Und wenn es Abend wurde und die Sonne unter­ging, dann kroch die Kälte empor. Die kühle Luft, die der Regen von der Erde hob, kroch mit den aufkommenden Winden, die den Schnee von den Bergen leckten, heran und drang über Türschwel­len, durch Schlüssellöcher, unter Mauern hindurch bis in Ibos Zelle hinein und füllte seine Lungen.

 

Aus irgendeinem Grund kam seit ein paar Tagen niemand, um ihn aus der Zelle zu holen und wegzubringen. Von einer Mahlzeit zur nächsten kamen sie, öffneten seine Tür, gaben ihm seine Schüs­sel zum Essen, schlössen wieder ab und gingen.

Er hatte nach einem Heft und einem Stift gefragt; auch das war gekommen.

10 bis 15 Tage dauerte das so an.

Es sprach sich herum, daß der Staatsanwalt Yasar Degerli aus Diyarbakir in die »Großstadt« gefahren war.

Die beiden letzten Tage des April und die ersten Tage des Mai ver­liefen also ohne Folter, ohne Verhör, ohne Fragen. Ibo lebte ein wenig auf. Er kam zu Atem. »Die Vernehmungen sind wohl abgeschlossen«, dachte er sich.

 

In seiner Kladde machte er sich Notizen, begann erste Entwürfe für seine Verteidigungsrede.

Er notierte sich, welche Bücher er für seine Verteidigung lesen mußte und welche Gerichtsunterlagen er anfordern wollte, notierte die Liste der Anschuldigungen ihm gegenüber und die Punkte, auf die er sich in seiner Verteidigung besonders stützen wollte.

Er plante eine lange politische Verteidigungsrede vor Gericht. Allein schon die Notizen für den Entwurf füllten viele Seiten seines Heftes.

Ungeduldig wartete er auf den Tag, an dem er aus seiner Zelle ins Gefängnis zu seinen Freunden gebracht werden würde.

Seit Monaten war er ohne Nachrichten. Zum einen war es dies, was ihn neugierig machte, zum anderen fragte er sich, ob man ihm wohl diese Liste der Dinge für seine Verteidigung lassen würde.

Das Formblatt auf dem Deckel seines »Kladde«-Heftes hatte er
folgendermaßen ausgefüllt:

Schule:Diyarbakir

Vorname, Name: Ibrahim Kaypakkaya, 

Untersuchungsgefängnis der Ausnahmezustandsverwaltung.

 

Gleich auf der ersten Seite begannen die Notizen des »Verteidi­gungsentwurfes«. Seitenlang zogen sich diese Notizen hin. Ibo schrieb ohne Unterlaß in diesen Tagen.

Auf einer Seite, die er mit »vor dem 9. Mai« datiert hatte, war unter dem Titel »Was ich von meinem Vater erfragen muß« eine Liste aufgestellt und einiges bezüglich seiner früheren Verfahren notiert.

Er schrieb hier für seinen Vater auf, von wem dieser die Infor­mationen einholen konnte. Unter einige dieser Notizen setzte er den Namen Salman Kaya, einer der ersten Namen, die einem ein­fielen, wenn man an den »Revolutionären Kampf in der Capa-Leh-rerschule« dachte. Unter anderen Notizen wiederum standen Na­men wie Mustafa Coban und Halft Kocer; unter wiederum ande­ren waren die Anwälte Alp Kuran und Ibrahim Türk aufgeführt.

Nun legte er seine ganze Kraft in diesen »Verteidigungsent­wurf«. Die Vorbereitungsarbeiten vertieften seine Gedanken, und ab und zu schrieb er Gedichte. Eines der Gedichte, die er in diesen Tagen schrieb, lautete:

»IMMER WERDEN WELCHE FÜR DIE REVOLUTION STERBEN

... sie gehen... gehen dahin, was sind nicht schon für Helden dahinge­gangen

Wenn auch du einen Sohn darunter hast, ist es nicht viel Ey blauer Himmel!

 Ey dunkel glänzender Ort! Du sollst wissen, unser Herz ist dem Zerspringen nahe

Durch Hammer und Amboß sind wir gegangen unser Zorn wächst wie das unendliche Meer.

Und auf eine andere Seite schrieb Ibo diesen Vierzeiler:

»Wir bauen das Erz ab und auch die Kohle, amman'''

Wir säen den Weizen und auch den Reis, amman

Wir sind die Schwerter, aus denen unser Blut auf den Faschismus

fließt

Es kommt der Tag, da leben wir unsere Wut, amman.«

 

»... Verborgen in meinem Herzen warst du ein Herz,

nicht Blut, doch unsere Liebe floß in die Nacht

Je mehr der Henker

die Schlinge zuzog...

Zu fühlen

In deinen Augen zufiihlen den Galgen

Zu schweigen

In deinen Augen zu schweigen

wie ein Rasiermesser...

Deine Augen?«

A.Arif

 

Tage, Wochen, Monate waren vergangen. Aber Ali Kaypakkaya hatte keinen Laut aus dem Mund seines Sohnes vernommen, kein Wort aus der Feder seines Sohnes gelesen. Von außen drang nur Flüstern, das von Ohr zu Ohr ging. »Der ist verloren«, sagte der ei­ne. »Der wird gehängt«, ein anderer, und »Hauptsache, er kommt aus der Einzelzelle; der Rest ist nicht mehr so schlimm«, ein drit­ter... Der einzige Wunsch, den Ali Kaypakkaya hatte, war, Ibo ein einziges Mal, und sei es auch nur von weitem, zu sehen. Ach, es würde ihm auch genügen, wenn er nur einmal seine Stimme hören oder zumindest einen Brief von ihm bekommen würde. So wurde sich seine Hoffnung festigen, und er würde ruhiger sein. Ibo hatte zu dieser Zeit einen Brief an seinen Vater geschrieben. Ali Kaypakkaya hatte diesen Brief nicht bekommen. Ibo, der dies miteinberechnet hatte, schrieb einen zweiten Brief an seinen Vater, der folgendermaßen lautete:

»Mein wertvoller Vater,

vielleicht habt Ihr davon gehört. Am 24. Januar bin ich in Tunceli

von der Gendarmerie verletzt worden. Fiinf Tage später bin ichfestgenommen worden... Jetzt bin ich im Untersuchungsgefängnis in Diyarbakir. Die Schußwunden sind vollkommen geheilt.

Ihr dürft Euch auf keinen Fall Sorgen machen... Auch die Nachbarn, Freunde und Verwandten sollen sich nicht sorgen.

Wir haben uns seit langer Zeit nicht mehr sehen können. Ich weiß gar nicht, was bei Euch so passiert ist in dieser Zeit. Seid Ihr jetzt be­wußte Arbeiter geworden? Wie läuft, die Schule für die Kinder, und in welcher Schule sind sie? Wie geht es meiner Mutter und meiner Amme? Wenn Ihr mir von ihnen schreiben könntet, würde ich mich freuen.

Ich hatte Euch schon einmal einen Brief geschrieben. Doch in meiner Zerstreutheit habe ich ihn wohl falsch adressiert. Ihr habt ihn sicher nicht bekommen. In dem Brief hatte ich einige Wünsche aufgeschrieben.

Ich falle damit Eurem allemal schon sehr kleinen Geldbeutel zur Last, entschuldigt. Ich habe überhaupt keine anständige Kleidung mehr. Ich möchte, daß Ihr mir Unterwäsche, ein Hemd, eine Jacke, Hosen und Schuhe schickt. Es wäre noch besser, wenn Ihr mir das Geld für die Jacke, die Hosen und die Schuhe zusendet. Außerdem wäre ich sehr froh, wenn Ihr mir eine Uhr und etwas Geld, soweit es geht, zukommen las­sen würdet. Es ist wirklich schlecht ohne Uhr.

Ich grüße Euch und küsse Euch die Hände. Allen Kindern küsse ich einzeln die Augen.

Versucht ja nicht, hierherzukommen. Es ist unmöglich, daß wir uns sehen. Wenn Ihr etwas schickt, so schickt es mit der Post. Und wie schon gesagt, sorgt Euch nicht um mich. Und seid nicht traurig. Was passiert ist, ist völlig unwichtig.   

Euer Sohn Ibrahim Kaypakkaya

«Dies war der erste Brief, den Ali Kaypakkaya von Ibo erhielt. Der Brief ließ einen großen Stein von seinem Herzen fallen. Wieder und wieder las er, was sein Sohn geschrieben hatte und schaute sich den Brief an. Je öfter er ihn las, desto größer wurde seine Aufre­gung. Schließlich machte er sich auf zum Markt. Alles Geld, was er hatte, kratzte er zusammen und kaufte einen Anzug, zwei Paar Strümpfe, eine Armbanduhr, ein Hemd und Unterwäsche.

Dann dachte er lange nach und entschied endlich, die Sachen persönlich nach Diyarbakir zu bringen. Ibo hatte zwar gesagt »kommt nicht; schickt die Sachen mit der Post«, doch Ali Kaypak­kaya wollte trotzdem der Hoffnung eine offene Tür lassen.

Im Bus nach Diyarbakir bekam er aus dem Gespräch zweier Zi­vilisten in der Sitzreihe hinter ihm mit, daß sie Offizielle waren und als Beauftragte des Ausnahmezustands nach Diyarbakir reisten.

Er drehte sich zu ihnen um und erzählte, daß auch er auf dem Weg zur Ausnahmezustandsverwaltung in Diyarbakir sei. Er hoff­te, daß sich vielleicht eine Bekanntschaft auf der Reise entwickeln würde und sie ihm dabei helfen könnten, seinen Sohn zu sehen.

Doch in dem Moment, als der Name »Ibrahim Kaypakkaya« fiel, wurde der eine von ihnen, ein mittelgroßer bis großer, dunkler, kräftiger Mann wütend und fuhr Ali Kaypakkaya an: „Ibrahim wirst du nicht in die Hände bekommen!"

Daraufhin fragte Ali Kaypakkaya diesen Mann, dessen Name, wie er im Laufe des Gesprächs herausgefunden hatte, Fehmi war: »Warum, mein Herr? Wird er zum Tode verurteilt?« Doch »Feh­mi« schnitt ihm das Wort ab: »Frag mich nicht weiter, dräng dich nicht weiter auf, dreh dich nach vorne. Ibrahim kriegst du nicht le­bend in die Hände. Das war's!«

Die mit Nachdruck gesprochenen Worte dieses dunklen, mittel­großen, kräftigen Mannes, der bei der Ausnahmezustandsverwal­tung beschäftigt war, und der »Fehmi« hieß, hatten Ali Kaypak­kaya verärgert. Doch er wußte, daß er seinen Sohn nicht würde se­hen können, wenn er sich weiter mit den Männern einließ und hielt sich zurück.

Nach der Ankunft in Diyarbakir ging Ali Kaypakkaya gerade­wegs zur Ausnahmezustandskommendantur. Und an der gleichen Stelle wie schon einmal erzählte ihm der Oberstleutnant, über den er erfuhr, daß er »Ahmet« hieß, daß »die Vernehmungen noch nicht abgeschlossen« seien. »Es ist unmöglich, daß Sie ihn sehen!«

An der Stelle, wo er sich um die Besuchserlaubnis bemühte, wa­ren ein Oberleutnant mit Namen Ali, ein weiterer Oberleutnant aus Kerkük und ein Leutnant namens Mevlüt tätig, der an der Theolo­gischen Fakultät studiert hatte. Dieser Mevlüt verstand aus Ali Kaypakkayas Worten, daß er Alevit* war und begann urplötzlich, ihn zu beschimpfen und zu verfluchen: »Euren Ali* macht ihr zu Allah; alles Böse kommt aus euren Köpfen...!«

»Mein Sohn trennt die Menschen nicht nach ihr und wir; das ist kein Kampf von Sekten...«, sagte Ali Kaypakkaya zwar noch, doch der Leutnant mit Namen Mevlüt fuhr fort, ihn zu beschimpfen.

 

Schließlich stand der Oberleutnant mit Namen Ali auf und for­derte Ali Kaypakkaya auf zu schweigen. »Wenn eine Schlägerei be­ginnt, halte ich mich raus«, sagte er, um den Streit zu beenden.

»Wer bin ich schon«, beendete Ali Kaypakkaya seine Worte, »nichts weiter als der Vater eines Angeklagten. Schreit ruhig...« Dann reichte er ihnen die Sachen, die er für seinen Sohn mitge­bracht hatte, damit sie sie ihm gaben.

Die Uniformierten nahmen die Sachen nicht an. »Wir könnten ihm so nichts geben; schickt es mit der Post!« sagten sie. »Wenn du willst, schreib ihm eine kurze Mitteilung; die können wir ihm zu­kommen lassen.«

Ali Kaypakkaya holte ein Stück Papier heraus und begann, etwas für seinen Sohn zu schreiben. Die anderen lasen mit.

»Mein Sohn«, schrieb er. »Es gab einmal einen großen Krach zwischen uns. Jetzt bist du hier. Da Deine Ideale Dich hierherge­bracht haben, darfst du nicht traurig sein...«

An dieser Stelle unterbrachen sie ihn. »So was kannst Du nicht schreiben; Du machst ihm Mut, Mut machen ist verboten«, sagten sie. »Schreib was wie >Deiner Mutter geht es gut; mir geht es gut; leider war es nicht möglich, daß wir uns sehen !<« Da schrieb er ir­gend etwas hin und gab es ihnen.

Anschließend fragten sie Ali Kaypakkaya, in welchem Hotel er übernachten würde. »Ich bleib' nicht in Diyarbakir«, gab er zur Antwort und entfernte sich. Und als er hinausfuhr in die Stadt wurde er traurig.

»Wenn ich jetzt gesagt hätte, ich bleibe noch heute Nacht, ob das nicht besser gewesen wäre? Vielleicht hätte irgendein vernünfti­ger Mensch einen Brief von ihm gebracht; haben sie deshalb da­nach gefragt? Oder wollten sie mich in eine Falle locken und fest­nehmen...?« Während der ganzen Reise nagten diese Gedanken in ihm.

Die Sachen für Ibo gab er erst am Tag nach seiner Rückkehr bei der Post auf. Auch einen Brief schickte er an Ibo.

»,.. Ich frage: was suchen sie

wenn ein Mensch an einen Balken gefesselt und gepeitscht,

sein Gehirn zerfetzt wird, und Fäuste über Fäuste über Fäuste

und aus seiner mit gestoßenem Glas gefüllten Kehle

 siech die Worte klagend ergießen

 was interessierten den Mörder

 die beklagten, doch ungebrochenen Dinge...«

  N. Bebram

In der Nacht vom Freitag, dem 27. April 1973, zum Samstag wur­den in das Untersuchungsgefängnis der Ausnahmezustandsverwal­tung Diyarbakir, wo Ibo einsaß, einige weitere Festgenommene ge­bracht. Jeder von ihnen wurde in eine Einzelzelle in dem Zellenein­gang eingeschlossen, wo Ibo in der Zelle Nummer 3 eingekerkert war.

Ibo horchte in seiner Zelle aufmerksam auf die Geräusche.

In den langen Monaten, die er schon in diesem handflächengro­ßen Loch einsaß, hatte er gelernt, Geräusche von außen zu deuten.

Einer der neu gekommenen Gefangenen erbat sich von dem Of­fiziersanwärter, der ihn in die Zelle gebracht hatte, eine Zigarette. Ibo erkannte ihn sofort an der Stimme. Diese Stimme war für ihn in dieser Umgebung mitten in der Nacht wie ein Freundschafts­gruß.

Einige Zeit später, als die Wärter die mit der Einweisung verbun­denen Arbeiten erledigt hatten, begann er, aus seiner Zelle heraus die »Internationale« zu singen. Wieder einige Zeit später stimmte er den »Mustafa Suphi-Marsch«* an.

Er wollte den Freunden, die neu in die Zelle gebracht worden waren, und die jeden Moment zur Folter geschleppt werden konn­ten, Mut machen; gleichzeitig sollte dies eine Nachricht sein, daß er hier und gesund war.

Keiner der Gefangenen in den Zellen konnte schlafen. Sie dach­ten an Ibo; Ibo dachte an sie.

Lange nach Mitternacht rief Ibo: »Woher seid ihr gekommen? Wer seid ihr«

Die Neuangekommenen ließen Ibos Fragen unbeantwortet. Da sie noch nicht verhört worden waren, fanden sie es nicht klug, Ibo ihre Namen zu nennen. Ibo verstand, drängte sie nicht weiter und begann wieder einen Masch zu singen, um ihnen Mut zu machen.

Dann kamen die Wärter und brachten Ibo zum Schweigen.

Die neuen Gefangenen in den anderen Zellen, Hasan Zengin Kaya Bozoklar, Celal Bozath, Mehmet Altinbas, Hamza Kilinc, Vakkas Yagsu und Celal Deniz* wurden von den Wärtern davor gewarnt, auch nur »den geringsten Mucks von sich zu geben«.

Am nächsten Morgen, dem 28. April 1973, wurden um 8.00 Uhr die Türen aller Zellen geöffnet - bis auf Ibos Zelle. Die Gefange­nen wurden aufgefordert, zu sagen, was sie brauchten. Dann schnitt man ihnen die Haare kurz und machte Fotos von ihnen. Wieder wurden sie in ihre Zellen gesteckt, die Türen wurden ge­schlossen, und ihnen wurde eingeschärft, auf keinen Fall durch die Gucklöcher zu schauen.

Dann öffnete man Ibos Zellentür und reichte ihm das Essen hin­ein.

Gegen Mittag holten sie wieder die anderen Gefangenen nach und nach für den Toilettengang heraus.

Hasan war auf dem Rückweg von der Toilette etwas zurückge­blieben und hatte durch das Guckloch der Zelle Nr. 3 hineinge­schaut. Ibo war an seine Pritsche angebunden und schaute ebenfalls auf das Guckloch. Ihre Blicke trafen sich. Ibo trug einen Pyjama und ein graues, zerrissenes Jacket über den Schultern.

Die anderen machten es Hasan nach, und der Reihe nach konn­te jeder der Gefangenen einen Blick auf Ibo werfen und ihm in die Augen schauen.

Gegen 16.30 Uhr des gleichen Tages riefen die Wärter den neu­en Gefangenen zu: »Macht euch bereit; ihr geht!« Es war Zeit für ihren »Abtransport«.

Als Ibo die Rufe hörte, begann er mit lauter Stimme aus seiner Zelle heraus zu rufen: »Freunde! Sagt kein Wort! Bleibt Herren eures Willens! Wenn nötig, sagt nicht einmal den Namen eurer Mütter. Sie bringen euch zur Folter; zeigt den Faschisten die Entschlos­senheit von Revolutionären!«

Sie stürzten in Ibos Zelle und brachten ihn zum Schweigen.

Noch auf dem Weg klang den Abtransportierten Ibos Stimme in den Ohren.

Sie verließen den Hof eines L-förmigen Gebäudes und durch­querten einen Garten, der mit Kieselsteinen geschmückt war. Die Augenbinde eines Gefangenen saß etwas locker, und so konnte er erkennen, was um ihn herum geschah.

Zwei bis drei Minuten ließ man sie gehen. Dann war ein Schild zu sehen: »Ziya-Gökalp-Straße«. Hier war das Folterhaus.

Einer der Gefangenen bekam ein paar Gesprächsfetzen mit.

»Yasar Bey ist nach Istanbul gefahren. Er wird dort wohl einige Termine wegen Ibrahim haben...«, sagte jemand. Und eine andere Stimme fuhr fort: »Sollen wir uns denn ewig mit dem beschäftigen? Wenn er nicht redet, muß er halt weg...«

Einen Teil der Gefangenen verlegte man nach der Folter und dem Verhör am 1. Mai aus dem Folterhaus in das große Untersu­chungsgefängnis. Dort erzählten sie ihren Freunden, was sie in dem Zellengang gesehen hatten, berichteten von Ibo und den Märschen, die er gesungen hatte. Sie sagten, er hätte einen gutgelaunten und gesunden Eindruck auf sie gemacht.

Alle, die wegen der gleichen Sache wie Ibo in Untersuchungshaft saßen, dachten in diesen Tagen nur an ihn. Fast alle, die wegen die­ses Prozesses in Untersuchungshaft saßen, waren durch diese Zel­len und die Folter gegangen und dann in das Untersuchungsgefängnis gebracht worden. Nur Ibo ließen sie nicht aus dem Loch her­aus, in das sie ihn gesteckt hatten, zeigten niemandem sein Gesicht und brachten ihn nicht in das Untersuchungsgefängnis.

Ibos Freunde im Untersuchungsgefängnis wandten sich immer wieder an die Gefängnisleitung und erkundigten sich nach ihm. Doch ihre Fragen blieben unbeantwortet.

Einer der Wärter, die im Korridor des Zellenganges Wache hiel­ten, hieß »PAS. A«. Er stammte aus der Sippe der Cakallar im Kreis Besni von Adiyaman und wohlte im Stadtteil Türktepe. Der Name eines anderen Wärters lautete Hüseyin Aksoy. Er wohnte im Dorf Elbahan bei der Kreisstadt Kilis von Gaziantep und war Unteroffi­zier.

 

  Ibo schrieb in diesen Tagen ununterbrochen Sachen in seine ka­rierte Kladde.

Seitdem die Folter aufgehört hatte, war er ständig mit Überle­gungen und Notizen beschäftigt.

An so einem Tag gaben sie ihm einen Brief von seinem Vater. Sein Vater hatte folgendes geschrieben:

»Mein lieber Sohn! Ich grüße Dich und küsse Dir mit all meiner Lie­be die Augen und wünsche Dir mit Hilfe des allmächtigen Allah viel Gesundheit.

Ich habe den Brief bekommen, den du an die Adresse der Fabrik ge­schickt hast. Den Brief, den Du über den Lebensmittelhändler Bedri an mich geschickt hast, habe ich nicht erhalten. Du schreibst, Du wirst Be­scheid sagen, wenn man eine Besuchserlaubnis bekommen kann.

Ich werde warten und so lange auch nicht kommen. Wenn es irgend etwas gibt, was Du brauchst, bevor es die Besuchserlaubnis gibt, warte nicht, bis wir kommen, sondern schreibe sofort. Sie wollen die Begründung fiir den Prozeß, den ich beim Oberverwaltungsgericht angestrengt habe.

 Ich schicke Dir morgen die Mitteilung zu, die per Post gekommen ist; Du wirst die Begründung entsprechend schreiben. Ich habe dem Rekto­rat der Lehrerhochschule in Istanbul in einem Schreiben mitgeteilt, daß sie die Erklärung von meinem Sohn Ibrahim Kaypakkayet aus dem Un­tersuchungsgefängnis der Ausnahmezustandsverwaltung Diyarbakir an­fordern sollen. Soweit ich verstehe, wird das Rektorat den Prozeß verlo­ren haben, denn sie sagen jetzt: >Wir haben Ihre Erklärung bekommen und Sie zur Schule gerufen, Sie sind aber nicht gekommene Jetzt wollen sie eine Schadenersatzklage machen. Sie wissen, daß du im Gefängnis bist und denken sich deshalb neue Sachen aus.

Deine Amme und Deine Mutter grüßen Dich und küssen Dir die Augen.

Haydar, Sultan, Feride, Hakki, Alekber und Elif grüßen und küssen Dir die Hände. Auch Galip Özdemir und Pire Mehmet lassen Dich grüßen.

Mach Dir wegen uns keine Sorgen, uns geht es gut. Wir müssen im­mer nur an Dich denken. Mein lieber Sohn, ich beende diesen Brief und grüße Dich noch einmal und küsse Dir die Augen.

Gott schütze Dich.

PS: Die Mitteilung kam bei uns am 18. (April) an, obwohl die Er­klärung bis zum 15. (April) abgegeben werden sollte. Ende.«

Über diesen Brief und die vielen guten Nachrichten freute sich Ibo sehr. Er wollte eine Liste machen, was er alles brauchen könnte, sie seinem Vater zuschicken und machte sich entsprechende Notizen.

»Wir werden uns bald sehen können, da endlich die Folter auf­gehört hat«, schrieb er in sein Heft und überlegte, seinem Vater schon jetzt Bescheid zu sagen.

Voller Hoffnung wartete er in diesen ersten Maitagen darauf, aus der Zelle herauszukommen.

» Wie sollte er es nicht begreifen, sich nicht ganz hingeben

Gegen die Lüge, gegen den Kerker

Warum soll er sein Ziel nicht leben, soll nicht leben, was seinen

Tränen Atem gibt Denn die Türen sind verriegelt, die Wärter vertraut mit Flüchen

und Fußtritten

Die Schlagadern verschlossen: erstarrt... verrußt... lieblos

 Denn Hände zu halten, sich zu umarmen ist verboten

 Bündel und Netze werden genauestens durchsucht

 Nachrichten trifft schon auf der Zungenspitze der Messerstoß,

entwürdigend...

Denn wie glitschiger Tang auf Felsen

Sind freudige Worte belagert

Denn die jugendlich schüchternen Küsse

eines liebenden Wunsches einer Freundschaft

 sind unter Fußtritten und Stiefeln

Deine Talente, deine Treue sind Staub überlassen

 Die Tugend im Blut, in den Folterkammern...«

                                  N.Behram

»An die Ausnahmezustandskommandantur

DIYARBAKIR

Aus einem Artikel der Zeitschrift Tercüman vom 31. 1. 1973 haben wir entnommen, daß der ehemalige Student der Fächer Physik und Mathe­matik unserer Schule, Ibrahim Kaypakkaya, am 25. Januar 1973 in der Gegend des Dorfes Seyithan im Bezirk Tunceli infolge einer Auseinan­dersetzung mit Sicherheitskräften verletzt festgenommen worden ist und sich aufgrund seiner Beteiligung an anarchistischen Aktionen auf An­ordnung Ihrer Kommandantur in Haft befindet.

Damit seitens des Disziplinarrates unserer Schule eine Entscheidung bezüglich Ibrahim Kaypakkaya, dessen Name mit zurückliegenden Vor­gängen in unserer Schule in engem Zusammenhang steht, gefällt werden kann, hat sich die Notwendigkeit ergeben, daß die im Anhang beige­fügten Vorwürfe seitens o. g. I. Kaypakkaya beantwortet werden.

Ich bitte Sie höflichst um die Erlaubnis und Anordnung, damit die nötigen Bearbeitungen durchgeführt werden können.*

Die Teile des Schreibens, die sich auf Ibo beziehen, lauten fol­gendermaßen:

»Sie finden unten die gegen die Disziplinarordnung unserer Schule verstoßenden Vergehen aufgeführt, derer Sie sich als Student unserer Schule im Schuljahr 1968-69 schuldig gemacht haben. Wir bitten Sie nachdrücklich, Ihre diesbezügliche Erklärung bis spätestens 15. Mai 1973 an das Rektorat unserer Schule zu schicken. Zu folgenden Vor­würfen erbitten wir Stellungnahme:

1. Am 18. 7. 1968 verteilten Sie im Namen der >Fikir Klubs< vor der Schule das im Anhang beigefügte Flugblatt, ohne eine entsprechende Er­laubnis der Schulverwaltung eingeholt zu haben.

2. Sie sagten Sachen wie: >Die Tauben, die euch die Nachrichten überbrachten - Die Schulleitung, die auf die andere Seite wechselte und sich einseitig verhält. Die Leitung soll sich gewiß sein, sie wird dem Ur­teil der Geschichte nicht entgehen! Die 6. amerikanische Flotte liegt vor Anker.<

3. Aus den Protokollen des Disziplinarrates ist zu entnehmen, daß Sie sich am 12. 10. 1969 an einer Auseinandersetzung vor dem Ein­gangstor unserer Schule beteiligt haben, während der Scheiben einge­worfen und eine Reihe von Schülern verletzt wurden.

Nehmen Sie Stellung zu diesen Vorwürfen.»

Ibo, an der Schwelle zur Verurteilung zum Tode, saß in seiner Zelle und schrieb eine Erklärung in sein Heft, in der er sich mit dem Schreiben der Schulleitung und der Untersuchung beschäftig­te. In der Stellungnahme, die er ihnen zuschicken wollte, schrieb er (auszugsweise) folgendes:

»... Bezüglich der Vorwürfe, die aufgrund des genannten Flugblattes gegen mich erhoben wurden, habe ich seinerzeit dem Disziplinarrat der Schule eine Antwort zukommen lassen. Der Disziplinarrat befragte uns, d. h. mich und die neun anderen, die mit mir zusammen die >Fikir Klubs< gegründet hatten, nicht, weil wir Flugblätter des >Fikir Klubs< verteilten, sondern, weil wir diesen >Fikir Klub< gegründet hatten, ohne die Schulleitung um Erlaubnis zu bitten. Das Flugblatt nämlich haben wir nicht vor der Lehrerhochschule, sondern vor den naturwissenschaft­lichen und geisteswissenschaftlichen Fakultäten verteilt. Da uns Aktivi­täten innerhalb der Schule verboten worden waren, arbeiteten wir au­ßerhalb der Schule. Und bezüglich des Vorwurfes, wir hätten den >Fikir Klub< ohne Erlaubnis gegründet, weise ich Sie daraufhin, daß die Ver­fassung und das Vereinsgesetz uns dieses Recht geben. Diese Gesetze er­lauben uns, einen Verein zu gründen, Mitglied in einem Verein zu werden, ohne jemanden nach einer diesbezüglichen Erlaubnis fragen zu müssen. Wir haben dieses Recht genutzt. Die schriftliche Erklärung, die ich bereits dem Disziplinarrat zugeschickt hatte, mußte sich in Ihren Unterlagen befinden. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.

Im Lehrjahr 1968-69 war ich vom Unterricht ausgeschlossen. Auch wenn keine offizielle Bestätigung des Ausschlusses seitens des Erziehungs­ministeriums vorlag, wurde mir das Kleidergeld von 600 Lira, das jedem Studenten zusteht, mit der Begründung verweigert, ich sei kein Student der Schule. Entsprechend können Sie mir auch keine Vergehen vorwer­fen, die ich im Lehrjahr 1968-69 >als Student der Schule< begangen ha­ben soll... Obwohl das Oberverwaltungsgericht die Aufhebung des Ausschlusses verfügt hatte, wurde ich dennoch nicht wieder in die Schule aufgenommen, wohingegen die Schule der gleichen Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in bezug auf meine Freunde folgte. In bezug auf mich war die Schule nicht gewillt, der Entscheidung des Gerichts Fol­ge zu leisten. Ich habe daraufhin eine Schadenersatzklage angestrengt.

Der Ausdruck >die Taube, die euch die Nachricht überbrachte< be­zieht sich auf den verleumderischen, verlogenen Spion, der, obwohl ich nicht innerhalb der Schule die Flugblätter verteilte, Ihnen mitteilte, daß ich in der Schule Flugblätter verteilt hätte.

 

Darüber hinaus ist es Realität, daß die Schulleitung >ihre Richtung geändert< hatte. Denn zunächst wollte uns die Schulleitung aufgrund unseres Protestes gegen die 6. Flotte bestrafen, dann aber schien es so, als hätte sie keine Lust mehr, den Aufenthalt der 6. Flotte im Bosporos zu verteidigen, zumindest gab die Schulleitung ihr ursprüngliches Vorha­ben auf und begann, wegen Flugblattverteilens innerhalb der Schule ei­ne Untersuchung gegen uns anzustrengen.

... In gleichem Sinne ist es eine Realität, daß »die Schulleitung jener Tage sich einseitig verhielt. Innerhalb der Schule konnten jede Menge Veröffentlichungen mit konservativem, revisionistischem, volksfeindli­chem, fundamentalistischem und faschistischem Gedankengut (ein­schließlich Hitlers »Mein Kampf) ungehindert verkauft und ausgestellt werden. Auf der anderen Seite wurden eine Reihe revolutionärer Ver­öffentlichungen, die nicht verboten und auf dem Markt frei erhältlich waren, nicht einmal in die Schule hineingelassen. Die Schulleitung ar­beitete Hand in Hand mit Studenten, die Mitglieder der >Ulkü Ocaklari<* und »Mücadele Birlikleri<* waren.

Auf der anderen Seite wurden Studenten, die zu den >Fikir Klubs< gehörten oder mit ihnen sympathisierten, unter Druck gesetzt; man ver­suchte, sie einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen.

... »Eins soll die Leitung genau wissen; Sie werden dem Urteil der Geschichte nicht entgehen können<, habe ich gesagt. Ja, wer uns ein de­mokratisches Recht verweigert, das uns Verfassung und Vereinsgesetz zugestehen, der wird sicher dem Urteil der Geschichte nicht entgehen.

Sicherlich werden diejenigen nicht ihren Kragen vor dem Urteil der Geschichte retten können, die die 6. Flotte, die unser Volk und Land bedroht, ah Vollstrecker der Profitinteressen des amerikanischen Impe­rialismus im Nahen Osten und der Türkei, fast mit Blumensträußen in den Händen empfingen und sich freiwillig zu Kupplern der amerikani­schen Soldaten machen ließen. Sicherlich werden diejenigen nicht dem Urteil der Geschichte entgehen, die uns aus der Schule vertreiben woll­ten, da wir gegen die 6. Flotte protestierten. Wer im Recht ist, wer an der Seite des Volkes steht, braucht sich vor dem Urteil der Geschichte nicht zu fürchten. Nur wer etwas zu verbergen hat, muß sich vor all dem fürchten.

Es sind die faschistischen und fundamentalistischen Kräfte, die Feinde unseres Volkes und seiner Unabhängigkeit gewesen, die unsere Schule überfallen und die Scheiben und Fensterrahmen zerbrochen haben, die

 

Anlaß dafür gaben, daß eine Reihe von Schülern verletzt wurden, eini­ge Schüler aus der Schule geworfen wurden, die die Schule mit schul­fremden Personen von den >Ülkü Ocaklari< und >Mücadele Birlikleri< anfüllten und die Schule zu einem Waffenlager machten. Ihre Fragen sollten Sie nicht mir, sondern ihnen stellen...«

Und noch viele solcher Notizen machte Ibo in seiner karierten »Kladde«, um sie an die Schulleitung zu schicken.

Es war einer der ersten Tage im Monat Mai. Ibo saß in seiner Zelle, wieder mit Heft und Stift in der Hand, im Zwiegespräch mit seinen Gedanken.

Im Zellengang war ein Hin- und Hergerenne zu hören. Ibos ge­fangener Freund, der von dem Verhör bei MIT in die Zelle zurück­gebracht worden war, schaute aus dem Guckloch und sah einen Hauptmann. Aus dem Flüstern der Wärter verstand er das Wort »Staatsanwalt der Ausnahmezustandsverwaltung«. Der Kopf des Mannes war kahl.

Als er in den Zellengang kam, hatten sie schon die Tür zu Ibos Zelle geöffnet. Der Mann war gekommen, hatte zunächst ein paar Worte mit Ibo gesprochen und dann auf einmal begonnen zu schreien:

»Du bist der Hirte einer Schafherde! Wenn der Hirte stirbt, kommt der Wolf und reißt die Herde!«

»Ich bin nur ein einzelner«, hatte Ibo ihm mit lauter und klarer Stimme zur Antwort gegeben. »Und war ich auch ein Anführer und würde getötet; es würden Tausende folgen. Ich habe keine Angst vor dir oder deinesgleichen ...« Auf diese Worte hin schlug der Mann wütend Ibos Zellentür zu und verschwand ...

 

„... Eigentlich ist sie lang, die Nacht

und dunkel

Doch weit entfernt von allen Ängsten.

Es ist eine Lust, so zu leben

allein

Einen Atemzug vom Tod entfernt

allein

Selbst an Ketten liegend

nie einsam zu sein..."

A.Arif

 

Es war der 8. Mai. Ibo hatte dem diensthabenden Soldaten mit­geteilt, daß er sich waschen wollte und daß er die entsprechende Erlaubnis einholen sollte. Er hatte schon fast das Gefühl, in seinem eigenen Dreck zu ersticken. Wenig später kam der diensthabende Soldat zurück und sagte Ibo, daß er sich waschen könne. Man brachte ihm einen primitiven Kocher, einem Eimer Wasser und ein Stück Seife in die Zelle. Der diensthabende Soldat holte auch den Gefangenen aus der Zelle 8 heraus, damit dieser Ibo half. Dann wurde auch Ibo aus seiner Zelle herausgeholt und in die Zel­le Nr. l gebracht. Als Ibo seinen Freund aus der Zelle 8 sah, freute er sich sehr. Sie umarmten sich und schauten sich eine Weile schweigend an.

Sein Freund hatte voller Erregung zugeschaut, wie Ibo aus seiner Zelle herbeigeholt worden war. Dieser Mensch, den er als so stark wie einen Baum kannte, bewegte sich jetzt nur noch humpelnd und unsicher wie ein Kind, das gerade erst laufen lernte. Sein rechter Fuß war zur Hälfte amputiert, an seinem linken Fuß fehlten alle Zehen bis auf den kleinsten. Das monatelange Angekettetsein am Bettrahmen hatte seinen ganzen Körper anschwellen lassen; an sei­nem linken Handgelenk hatte er eine tiefe Wunde von der Hand­schelle. Doch Ibo trug seinen Kopf hocherhoben, und seine Augen lächelten.

 

Der diensthabende Soldat und der Freund halfen Ibo, sich zu waschen. Danach unterhielt Ibo sich mit seinem Freund und zog dabei schwerfällig seine Kleidung wieder an.

Er erzählte seinem Freund, daß er sich seit einigen Tagen wieder gesund fühle, zur Zeit nicht gefoltert werde, sich auf seine Verteidi­gung vorbereite und auf den Tag warte, an dem er aus der Zelle herausgeholt werde.

Am 9. Mai schrieb er seinem Vater einen Brief, in dem er sagte, daß er »voller Hoffnung sei, sich auf das Gericht vorbereite und sich gesund fühle.« Für seine Verteidigung bat er seinen Vater, eini­ge Unterlagen zu besorgen, die Informationen über frühere Aktio­nen enthielten. Er schrieb auch, von wem sein Vater diese Unterla­gen bekommen könne und gab ihm die Namen seiner Anwälte.

Am 11. Mai teilten die Wärter dem Gefangenen in der Zelle Nr. 8 mit, daß er aus der Haft entlassen werde und holten ihn aus der Zelle heraus. Er sagte, daß er sich von Ibo verabschieden wolle be­vor er ging, und die Wärter erlaubten es.

Sie öffneten Ibos Zelle und führten die Freunde zusammen. Die beiden umarmten sich. Ibo bat den Freund, Kleidung und ein Paar Schuhe Größe 42 für ihn zu besorgen. »Wenn du nach Hause kommst, schickst du die Sachen!«, sagte er.

Dann nahm der Freund alles Geld, was er in der Tasche hatte, und gab es Ibo. 50 Lira davon gab Ibo seinem Freund wieder zu­rück. „Du wirst es auf dem Weg brauchen!" sagte er.

Aber da forderten die Wärter sie schon auf, »sich kurz zu fas­sen«. Die beiden Freunde umarmten sich, verabschiedeten sich von­einander, und Ibo wurde wieder in seine Zelle eingeschlossen.

Die Entlassung seines Freundes weckte in Ibo die Hoffnung, daß er endlich selbst auch aus diesem dunklen Loch herauskom­men würde, und er lebte wieder auf...

Ibos hoffnungsvoller Brief von der zweiten Maiwoche brachte gro­ße Freude in das Haus der Familie. Immer wieder nahmen der Va­ter, die Mutter, die Brüder sein Schreiben in die Hand und lasen es. Ali Kaypakkaya hatte sofort nach diesem Brief soviel wie mög­lich von den gewünschten Unterlagen zusammengestellt und mach­te sich schon am 19. Mai auf den Weg nach Diyarbakir. Je mehr der Autobus sich der Stadt näherte, desto erregter wurde er.

115..............devam edecek

 

Er fühlte auf seine Taschen und sah die Papiere noch einmal durch, die sein Sohn haben wollte.

Seitdem er im Radio die Nachricht von Ibos Gefangennahme ge­hört hatte, seit dem letzten Januartag bis zu dem heutigen Maitag hatte er jeden Tag, jede Sekunde mit einem dicken Kloß in der Kehle gelebt. Jetzt endlich war der Tag gekommen, an dem er ihn sehen sollte.

Ibos Satz, »die Verhöre sind endlich zu Ende; wir werden uns sehen können«, hatte große Hoffnung in ihm geweckt.

Der Bus, in den er am Abend des 19. Mai in Ankara einstieg, be­wegte sich durch die Nacht wie ein leuchtender Punkt, näherte sich in der Frische eines Frühjahrsmorgens Diyarbakir und hielt endlich im Herzen der Stadt.

Vom Busbahnhof aus ging Ali Kaypakkaya geradewegs zur Aus­nahmezustandsverwaltung. Er war voller Ungeduld.

»Es ist doch keine Besuchszeit!« sagten sie. Ali Kaypakkaya hielt es nicht aus und wollte telefonieren. Sie wiesen seinen Wunsch, sich sofort telefonisch nach dem Wohlergehen seines Sohnes zu erkun­digen, zurück und sagten ihm, daß er bis 9 Uhr zu warten habe.

Um Punkt neun Uhr wurden die Besucher nach ihren Ausweisen gefragt und dann eingelassen. Drinnen wurden nochmals die Aus­weise kontrolliert.

Während Ali Kaypakkaya noch gemeinsam mit den anderen Be­suchern wartete, trat einer von den Wachhabenden an ihn heran und sagte »Du wirst deinen Sohn wieder nicht sehen können!« Die Worte schlugen wie Kugeln in Ali Kaypakkayas Herz ein.

»Warum sollen wir uns nicht sehen können; er ruft mich doch selbst! Hier, sein Brief: »Komm, du kannst mich besuchen« sagt er! Und Sie wollen es immer noch verhindern ...? begann er zu brül­len. Daraufhin trat ein anderer Wachhabender zu ihm und sagte: »Wir können nichts machen; geh' und sprich mit dem Oberleut­nant!«

Ali Kaypakkaya ging, wohin sie ihn schickten. Von dort brach­ten sie ihn in eine Wachstube. Er trat ein und fand den Leutnant Mevlüt und den Oberleutnant Ali vor, die er von seinem zweiten Aufenthalt in Diyarbakir noch kannte. Beide standen auf und be­grüßten ihn: »Willkommen«. Ihr Verhalten behagte Ali Kaypakkaya nicht. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich plötzlich verändert.

 

Dann kam ein Oberstleutnant mit schnellen Schritten herein. In seiner Hand trug er einen Stoß Papiere, die er dem Oberleutnant Ali gab. »Regel1 du das hier; ich hab' zu tun!« Sie führten Ali Kaypakkaya aus der Wachstube und stiegen in einen Jeep ein.

»Was müssen die für eine Angst vor meinem Sohn haben!« dach­te Ali Kaypakkaya, »jedesmal wenn ich komme, gerät alles in Pa­nik ...«

Im Jeep dachte er dann, »Also haben sie Ibrahim aus der Zelle herausgeholt!« und freute sich. Die Aufregung der Wachhabenden führte er darauf zurück, daß er sich heute zum ersten Mal mit sei­nem Sohn treffen würde.

Der Jeep fuhr aus dem Eingangstor und bog dann in die Straße ein, die zu den Büros der Staatsanwaltschaft führte. Der Oberst­leutnant sprach kein Wort, als sei ihm der Mund verschlossen, als seien alle Wörter dieser Welt aufgebraucht. Nur der Motorlärm füllte alles um sie herum. Als sie beim Büro der Staatsanwaltschaft ankamen, dachte Ali Kaypakkaya: »Wahrscheinlich vernehmen sie mich erstmal!« Doch da merkte er schon, daß sie auf den Weg zur Kommandantur der Ausnahmezustandsverwaltung waren.

Der Oberstleutnant stieg aus dem Jeep und ging hinein. Ali Kaypakkaya schaute aus dem Jeep zu den Fenstern und versuchte, Ibra­him irgendwo zu entdecken. »Ist Ibrahim hier?«, wandte er sich zwischendurch an den Chauffeur. »Nein Onkel, hier ist er nicht«, bekam er zur Antwort.

Er verstummte wieder und schaute nur auf die Tür, in die der Oberstleutnant verschwunden war.

Mal kam in ihm die Freude auf, seinen Sohn wiederzusehen, mal machte ihn die Aufregung der Sicherheitskräfte mißtrauisch, mal bekam er wieder Angst, daß sie ihm seinen Sohn wieder nicht zei­gen würden.

Mit der Angst kam auch Wut: »Wenn sie es schon wieder nicht zulassen, daß wir uns sehen, dann gehe ich bis zum Ausnahmezu­standskommandeur, zum Gouverneur und zur Regierung!«

Endlich erschien der Oberstleutnant an der Tür.

 

 

»... Blut.

Feuer am Meeresgrund

Mai über blutigen Bergwiesen

Schwebt wie eine Feder.

Bunker wie stählerne Kadaver

Tod liegt in der Luft, meine Liebe, Tod

Das Ziel ist erreicht...«

A.Arif

Mit schnellen Schritten trat der Oberstleutnant aus dem Gebäu­de und ging auf den Jeep zu. Er forderte Ali Kaypakkaya auf, aus­zusteigen. Zusammen gingen sie zurück in das Gebäude. Der Oberstleutnant führte Ali Kaypakkaya durch einen langen Gang in ein Zimmer.

Drinnen war ein Mann in einem weißen Kittel. Als Ali Kaypakkaya ihn sah, krampfte sich alles in ihm zusammen. »Vielleicht ist Ibra­him wieder krank, und sie haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Daher die Aufregung!«, dachte er.

Der Mann im weißen Kittel machte einen befangenen und ange­spannten Eindruck. »Setz dich doch; hier eine Zigarette ...!« sagte er und hielt ihm eine Packung hin.

Doch Ali Kaypakkaya nahm keine Zigarette und setzte sich auch nicht, sondern begann, im Zimmer auf und ab zu gehen.

Da öffnete sich auf einmal die Tür und herein trat der Komman­deur der Ausnahmezustandsverwaltung, Generalleutnant Sükrü Olcay zusammen mit einem Oberst sowie dem Chefarzt des Kranken­hauses und noch ein paar Offizieren.

Sükrü Olcay musterte Ali Kaypakkaya von Kopf bis Fuß. »Bist du der Vater von Ibrahim Kaypakkaya?«

»Ja«, antwortete Ali Kaypakkaya.

Daraufhin sagte Sükrü Olcay: »Das ist jetzt zwar sehr unvermit­telt, aber es muß heraus: Ibrahim ist gestorben...«

 

Alles Blut wich aus Ali Kaypakkaya's Gliedern. »Ich verstehe nicht...«, stotterte er.

»Ich habe gesagt, dein Sohn ist tot!«, wiederholte Sükrü Olcay.

Und auf Ali Kaypakkayas völlig verwirrte und mit schneewei­ßem Gesicht gestammelte Erwiderung »Warum soll er gestorben sein, mein Sohn, er stirbt nicht...«, erwiderte er noch einmal: »Er ist gestorben, sage ich; er ist eben gestorben ...«

Jetzt kam Ali Kaypakkaya auf eine seltsame Art wieder zu sich. Wie ein Mensch, der kurz vorm Ersticken ist, begann er zu schluk­ken und wühlte gleichzeitig in seinen Jackentaschen herum. Er zog den Brief aus der Tasche. »Da, den Brief hat er geschrieben; er ruft mich hierher. Mein Sohn stirbt nicht! Er war nicht mehr krank >Ich bin gesund<, schreibt er!«, begann er zu brüllen.

»Er hat Selbstmord gemacht; dein Sohn hat Selbstmord ge­macht!« brüllte Sükrü Olcay zurück. In abgehackten Sätzen brach es aus Ali Kaypakkaya heraus: »Nein, nein, mein Sohn wurde getö­tet, ihr habt meinen Sohn ermordet, ermordet habt ihr ihn, geschla­gen habt ihr ihn, zu Tode geprügelt, ihr habt ihn getötet...!«

»Sei still, sonst weisen wir dich in deine Schranken!«, drohte ei­ner der Umstehenden und schnitt Ali Kaypakkayas Klage ab.

Ali Kaypakkaya schwieg einen Moment und sagte dann mit schmerzerfüllter Stimme: »Gebt mir die Leiche; verhört mich, was immer ihr wollt, aber gebt mir die Leiche meines Sohnes ...!«

»Nein, er wird hier beerdigt!«, sagten sie zuerst. Doch mit fester Stimme beharrte Ali Kaypakkaya auf seinem Willen: »Ich bewege mich keinen Schritt von hier, solange ihr mir nicht die Leiche gebt!«

Sükrü Olcay wandte sich zu dem Mann im weißen Kittel: »Gebt ihm ein Glas Wasser!«

»Ich will weder euer Wasser noch sonstwas. Nur die Leiche mei­nes Sohnes will ich. Für ihn haben wir alles gegeben. Ein Gecekondu habe ich, das werde ich jetzt verkaufen für meinen Sohn; in mein Dorf werde ich ihn bringen!«, gab Ali Kaypakkaya zur Ant­wort.

»Erledigt das!« befahl Sükrü Olcay den Umstehenden, drehte sich um und verschwand aus dem Zimmer,

Dann führte der Oberstleutnant Ali Kaypakkaya wieder aus dem Zimmer. Sie fuhren zu dem Militärkrankenhaus, an dessen Tür Ali Kaypakkaya bei der ersten Fahrt nach Diyarbakir abgewiesen wor­den war war.

Dort sprachen sie von Formalitäten, die Ali Kaypakkaya erledi­gen sollte. Also ging er zur Stadtverwaltung und holte sich eine »Erlaubnis«. Für 430 Lira suchte er dann einen Sarg aus. Für noch­mal 70 Lira kaufte er ein Leichentuch.

Als das Leichentuch zusammengefaltet wurde, dachte er an die Kindheit seines Sohnes, wie er ihn als Wickelkind bekommen, wie er ihn in seine Arme genommen hatte.

Dann mietete er einen Lastenträger und mit Sarg und Leichen­tuch kehrten sie zum Krankenhaus zurück. Der Beamte der Stadt­verwaltung stellte ihm ein Papier aus: >Kann mitgenommen werden<, unterschrieb es und gab es ihm.

In dem Krankenhaus, in den Fluren wartete er jetzt auf ihn.

Nach einiger Zeit holten sie den Leichnam aus dem Kühlfach. »Da, dein Sohn, er ist bereit!«, sagten sie zu Ali Kaypakkaya. Der Kopf war vom Rumpf getrennt. Der Bauch, die Arme, die Beine waren in große Stücke zerschnitten. Der Rumpf war von Löchern durchsiebt. »Autopsie«, murmelte der Mann, der den Leichnam aus dem Kühlfach gebracht hatte. »Und was sind das für Löcher?« fragte Ali Kaypakkaya. Er bekam keine Antwort.

 

Beim Anblick seines Sohnes war es Ali Kaypakkaya, als trockne alles Blut ihn ihm aus. Anstelle seines Sohnes, anstelle dieses star­ken, baumgleichen Menschen zeigten sie ihm zerteilte, zerstochene Leichenteile. Die Kehle und der Hals von Ibo waren aufgetrieben und pechschwarz, als hätte man etwas darum gelegt und zuge­drückt. Später dann war sein Hals zerschnitten und zerteilt wor­den. Auf seiner Schulter und seiner Brust alles voll von Löchern ...

 

Bei diesem Anblick begann der Lastenträger, der Ibo in den Sarg legte, zu weinen. Ali Kaypakkaya wollte ihm seinen Lohn geben, doch er wehrte ab. »Das ist unsere Menschenpflicht!« sagte er. Die wachhabenden Soldaten und die Krankenwärter versuchten, Ali Kaypakkaya zu trösten.

Von den 1200 Lira, die er mitgebracht hatte, um sie Ibo zu ge­ben, waren ihm noch 550 geblieben.

Vor dem Krankenhaus begann er mit einem Taxifahrer zu ver­handeln. Der Fahrer wollte Vorauszahlung. Dann riet man Ali Kaypakkaya, den Sarg mit dem Flugzeug zu transportieren.

 

Im Büro der Fluggesellschaft forderten sie 240 Lira für den Transport des Sarges.

Was ihm noch an Geld geblieben war, gab er für das Flugticket. Es reichte nicht, doch einer der umstehenden Fremden mischte sich ein. »Den Rest zahlen Sie später«.

Sie brachten Ali Kaypakkaya zum Flughafen und übergaben ihn dort der Polizei.

Als die Passagiere am Flughafen aufgerufen wurden, sich in den Wartesaal zu setzen, fanden die Polizisten bei der Durchsuchung in Ali Kaypakkayas Taschen die Flugblätter, die Ibo für seine Er­klärung bei seinem Vater bestellt hatte. Unschlüssig drehten und wendeten sie sie in den Händen und berieten sich. »Die wollte mein Sohn haben; er brauchte sie für seine Verteidigung. Ich hatte sie ihm mitgebracht!« erklärte Ali Kaypakkaya. »So geht das nicht. Das ist ein Vergehen, die sind verboten. Wenn dein Sohn gestorben ist, dann hast du sie gefälligst zu zerreißen! Festnehmen sollten wir dich hier...!« brüllten sie zur Antwort.

Verzweifelt bat Ali Kaypakkaya sie, ihn doch in Ruhe zu lassen: »Mein Sohn ist gestorben, da kann ich doch nicht an diese Flug­blätter denken! Seit heute früh habe ich kein Stück Brot und kei­nen Schluck Wasser gehabt!« Auf Vermittlung einer Polizistin hin, ließen sie endlich von ihm ab.

Bei der Landung in Ankara wurde Ali Kaypakkaya von zwei Hauptmännern empfangen. Sie riefen ihm eine Taxe und banden den Sarg auf das Verdeck.

So kamen sie zu Hause an.

Sein Vater trug Ibo ins Haus. Die Nacht verbrachte er sitzend neben Ibo. Den Kopf in die Hände gelegt dachte er nach, fühlte, wie er älter wurde neben seinem Sohn.

Früh am nächsten Morgen mietete er einen Minibus und brachte seinen Sohn in das heimatliche Dorf.

Ihnen kamen auch »Verfolger« (staatliche Spitzel) ins Dorf nach. Innerhalb kürzester Zeit verbreitete sich in den umliegenden Dörfern die Nachricht von Ibos Tod. Scharenweise kamen Men­schen, um ihm noch einmal zu sehen.

Am Restaurant der Tankstelle gegenüber dem Friedhof stand der Wagen der »Verfolger«. Sie behielten von dort aus das Dorf und den Friedhof im Blick ...

 

 

»... Mein Kleiner hat sein Ziel nicht erreicht

hat nicht Hochzeit gefeiert und die Fahne gehißt, mein Lamm

Er hat studiert und sein Ziel nicht erreicht,

Ich flehe deinen verletzten Körper an

Laß mich auch auf deinem Weg sterben..."

 

Aus dem Klagelied, das IBOs Mutter sang

Auch der wirklichen Mutter von Ibo sagte man Bescheid. Sie und Ali Kaypakkaya hatten sich getrennt, als Ibo noch ein Baby war und gerade seine ersten Worte lernte. Nach der Trennung war Ibo bei seinem Vater geblieben.

Später dann war die Mutter in das Dorf Sungurlu (Gökcem) gezo­gen und hatte wieder geheiratet. In seiner Kindheit, aber auch in der Zeit, als er schon in Istanbul studierte, fuhr Ibo oft in das Dorf seiner Mutter, um sie zu besuchen. Die zwei, drei Nächte, die er im Dorf blieb, redete er lange und ausführlich mit seiner Mutter und >verschwand< dann wieder von der Bildfläche.

 

Wenn er ging und seine Mutter sagte: »Geh' nicht, mein Sohn, bleib noch ein wenig, daß ich mich sattsehen kann an dir!« dann tröstete Ibo sie und ant­wortete: »Wenn du dich nach mir sehnst, schau in den Spiegel, ich sehe dir ähnlich.«

Ibo >verschwand< immer wieder, doch nie gab er den Kontakt zu dem Dorf seiner Mutter auf, oft schickte er Zeitungen und Bücher dorthin.

In der Zeit, als Ibo gesucht wurde, überfielen die Sicherheitskräf­te auch das Dorf seiner Mutter und durchsuchten jede Ecke, jede Nische:

 

»... Als mein Kind nicht da war, kam die Polizei. Die Polizei kam, zwei so Wagen voll. Wer ist auf dem Foto, fragten sie; wem gehört der Hut, fragten sie, wem die Schlüssel gehören, fragten sie; warum hab'ich drei Schlüssel, wenn ich nur zwei brauche, fragten sie. Nach den Schu­hen fragten sie, nach dem Pullover, den ich anhab'...

 

Und dann war das so: Auf zwei Schritte drei Gendarmen und noch mal drei Gendarmen, von allen Seiten war das Haus umzingelt wie mit einem Drahtzaun. In die Dinger da vom Stall, so auf den Dachboden, in die Löcher, die Hühnerstangen haben sie doppelt und dreifach was reingestopft. Dann kommt er raus, dachten sie. Sie kletterten auf den Dachboden. Da haben wir Äpfel und so ausgelegt. Hier war jemand, hier hat jemand geschlafen, sagt er. Nein, sage ich. Hier haben wir Äpfel und so ausgelegt, sage ich. Dann kletterte er auf das Scheunendach und guckt ein bißchen rein. Hier, sagte er, verstecken sich die Männer. Nein, sage ich, wir sind Dörfler, da backen wir. Wenn das so ist, sagte er, dann sag, wo er ist, Frau. Eee, sage ich, ich sehne mich auch nach ihm. Dann haben sie unseren Dorfvorsteher geholt. Ein Herr mit einer Leiter zum Stall, mal hierhin, mal dahin. Und mich schleppen sie immer mit. Überall laufen sie hin, die Mädchen kriegen schon Angst. Dann sind sie wieder auf den Dachboden.

 

Unter die Kiste ist er gekrochen. Dann kommt er später, sagt er. Er kommt nicht, sage ich. Früher ist er gekommen, jetzt kommt er nicht mehr. Wenn einer früher gekommen ist, warum soll er dann nicht mehr kommen? fragt er. Und er hakte mich unter. Nehmt diese Frau mit runter, kommt mit dem Dorfwächter, sagte er, mit ihrem Nachbarn, sagte er. Das hier alles, so die Kissen, Ki­sten das Garn, alles haben sie durchsucht. Viele Drohungen gab es. Er packte mich am Hals. Ihr Meister hat mir ins Gesicht gegeben so viel er konnte. Du sagst nichts, weil er kommt, sagte er. Der Dorfvorsteher ist gekommen. Euer Sohn, sagte er, wird gesucht. Da hat einer gesagt, er ist gekommen, als er nicht gesucht wurde. Ich dachte, was sagt der das in so einem Moment. Das weiß ich nicht, hab' ich gesagt. Da haben wir es, daß du lügst, bringt sie nach unten, sagte er. Da sind wir hin zur Poli­zei. Morgens haben sie uns reingeworfen, abends um acht wieder raus.*

Später dann ließ Ibos Mutter ihr Radio nicht aus der Hand. In einem fort wartete sie neben ihrem Radio, als würde gleich eine Nachricht von ihrem Sohn kommen. Der Blick auf dem Weg, die Ohren am Radio, folgte sie Ibo, über Berg und Tal.

»... mit dem Radio im Arm, wenn ich in den Stall gehe und setze mich. Ich höre die um sieben, es wird acht, ich höre die um acht, es wird neun, ich höre die um neun. Und dann an dem Dienstag, so um sieben, habe ich das Radio im Arm und er sagt, Ibrahim Kaypakkaya ist ver­wundet. Und er sagt, Ali Haydar Yildiz oder so, ist an der Stirn getrof­fen. Mein Gott, sage ich, nicht das. Als ich wieder zu mir komme, kommen sie alle gelaufen und sagen, tu dies, tu das. Hat er einen Monat ge­sessen, waren es zwei, drei, vier, ich warte, daß er endlich heraus­kommt. .

Dann brachten sie ihr die Nachricht von seinem Tod:

 

»... Morgens bin ich aufgestanden und dann wie immer das Wasser geholt, da kommen zwei Leute von unten und reden: Wir bringen dich nach Dings, Karamahmut, sagten sie und fassen mich am Arm. Ich habe es gewußt. Es ist was mit meinem Kind. Nein, sagte er, und sie halten mich am Arm fest, nein, sagen sie. Ich komme unten an. Hab' um mich geschaut, er ist nicht da. Sie haben gerademal was über ihn gedeckt, sein Vater war schon lange da.

 

Habt ihr mein Kind so gebracht, seid ihr so gekommen! Ich schlage mir auf die Knie. Die Leute waren draußen bei den Tieren und sind gekommen, seine Freunde, alle haben geklagt. Die Steine und Berge ha­ben gebebt. Sie haben ihn mir nicht gezeigt. Vom Hals weiter wollten sie ihn nicht zeigen. Äther haben sie dräu/gemacht, wir konnten nicht näher ran. Drei Flaschen Kölnisch Wasser haben wir verbraucht, konn­ten nicht ran, wer kam, fiel in Ohnmacht, fiel und ging.

 

Soldaten wa­ren ganz schön viele und dann die Dörfler, seine Freunde auch ganz schön viele. Das eine Ende auf dem Friedhof, das andere im Dorf. Die Polizei war streng. Sie haben's nicht erlaubt, eine Beerdigungsfeier. Sie haben ihn mir nicht gezeigt; das hält sie nicht aus, haben sie ge­sagt. Sie haben seinem Kopf was genommen, haben seinen Kopf zer­schnitten, haben von seinem Nacken, von seinem Arm das Blut genom­men, das herabflossen ist. Der hat keine Angst, wenn der keine Angst hat, dann messen wir sein Herz, haben sie da in dem Gefängnis gesagt. Was sehen sie, an das Herz kommen sie nicht ran. Sie wollen seinen Kopf, der ist 5 mal so viel wie Atatürks. Immer, wenn wir den sehen, dann tun wir immer das gleiche, unsere Pflicht, da stellt der sich so hin und macht so und so.

 

Wenn der schon da ist, laßt uns den wegschaffen, wenn er schon in unserer Hand ist, sagt er. Da in dem Gefängnis. Er hatte alles genäht. Seinen Körper haben sie vom Bauch abgemacht. Das fließende Blut hatten sie von den Armen genommen..

Seit dem Morgen, als die Nachricht kam, hatte sie mit schmerzer­füllter Stimme ein brennendes, bitteres Klagelied auf ihren Sohn angestimmt. Jetzt sang sie es und schlug sich dabei auf die Knie...

 

 

»Mein Kleiner hat die Universität beendet

Freunde, Gefährten immer um sich geschart

 Hat alle verloren, als er verletzt

 Ich flehe deinen verletzten Körper an

laß mich auch auf deinem Weg sterben

Die Soldaten des Heeres zogen gegen ihn

Und einer von ihnen traf meinen Kleinen, traf mein Kind

Die bittere Nachricht kam ins Dorf

Weinen möge wer sie hört

Tränen verlieren und Trauer tragen

Mein Kleiner hat sein Ziel nicht erreicht

hat nicht die Hochzeit gefeiert und die Flagge gehißt, mein Lamm.

Er hat studiert, doch sein Ziel nicht erreicht

Ich flehe deinen verletzten Körper an

Laß mich auf deinem Weg sterben

Viele Monate hat mein Kleiner im Gefängnis gesessen

 Ich schlief, wachte, mein Herz, es brach, es brach        

 Seit ich ihn sah, ist mein Kummer groß                        

 Ich flehe deine heldenhafte Größe an, oyy                    

 Laß mich auf deinem Weg sterben

Eine Quelle der Weisheit war mein Kleiner

 Tötet nicht, ihr Gottlosen, das tapfere Lamm

Auf ihn los ging die gottlose Meut                

Ich flehe deine jugendliche Größe an                  

Laß mich auch auf deinem Weg sterben, oyy

Seit Ewigkeiten nicht gelacht hat mein Kleiner

Hat studiert, doch sein Ziel nicht erreicht, nicht erreicht

Kein Mitleid gehabt hat die gottlose Meute

Ich flehe deinen verletzten Körper an

Laß mich auch auf deinem Weg sterben, dich anflehen, mein Licht

Die Wunden meines Kleinen sind Wunden vom Dolch, vom Dolch

Und wer weint, ist seine Mutter, seine Mutter

 

Tötet ihn nicht, ihr Gottlosen, den Lehrer, den Lehrer

Ich flehe deinen verletzten Körper an

Laß mich auf deinem Weg sterben, mein Lamm

Tunceli sagen sie, ich hob es gehört, hob gehört

Einen Helden haben sie getötet, hört es, ihr Nachbarn, hört

Seinem Vater, seiner Mutter gaben sie die Nachricht, die Nachricht

Ich flehe deine heldenhafte Größe an

Laß mich auch auf deinem Weg sterben, mein Lamm

 

Gesucht haben sie, gesucht und dich gefunden, gefunden

Gebracht haben sie dich und in die Zelle gesperrt mein Lamm, mein Lamm

 

Und gefoltert haben sie meinen Kleinen, gefoltert

Ich flehe deinen verletzten Körper an

Laß mich auch auf deinem Weg sterben

Mein Alles, mein Lamm mit jugendlichem Körper, ich flehe dich an

mein Lamm

 

 

Der Frühling ist gekommen und alles lacht und spielt und spielt

Doch mein müdes Herz hat keine Ruhe, keine Ruhe

Ich warte auf Post, doch kein Brief kommt, kein Brief

Ich flehe deinen verletzten Körper an

Laß mich auch, mein Lamm, laß mich auch auf deinem Weg sterben,

mein Lamm*

 

»Der Henker eines Nachts im Bett erwacht

 Mein Gott, sagt er, >wie rätselhaft.,

 sie sterben und werden doch mehr, diese Männer,

 ich aber töte umd mir geht die Kraft«                                                                   A. Behramoglu

Später dann trugen die Dorfbewohner Ibo, ihn von Schulter zu Schulter reichend, aus seinem Elternhaus zum Friedhof. Alle Menschen in der Umgebung, jeder, der gehört hatte, daß Ibo ins Dorf gebracht worden war, ließ Arbeit Arbeit sein und machte sich auf zum Friedhof. Sie öffneten die vom Frühling gelockerte Erde und ließen Ibo hineingleiten. Sie bedeckten ihn mit Erde und trennten ihn für immer vom Tageslicht...

Am 19. Mai war Ali Kaypakkaya nach Diyarbakir gefahren. Am 21. Mai ließ er seinen Sohn im Dorf zurück und fuhr wieder zu­rück nach Ankara. Die »Verfolger« blieben im Dorf. Ihre »Aufga­be« war noch nicht beendet. Sie warteten noch, daß die Erde Ibo auflöste und er gänzlich verschwand. Lange Zeit ließen sie nieman­den in die Nähe des Grabes.

Die Nachricht breitete sich über ganz Anatolien aus. Wieder war Blut auf den Monat Mai geflossen.*

Ibos Kampfgenossen im Gefängnis von Diyarbakir nahmen sei­nen Tod schmerzerfüllt auf. Dort, gar nicht weit weg von der Zelle, in der Ibo monatelang allein gwesen war, hatten sie mit ihm gelebt. Sie verfluchten die Gewalttat. Aus ihren Reaktionen wurden Aktio­nen. Die Gefängnisleitung unterdrückte »unter Anwendung von Gewalt« die Kundgebungen der Gefangenen. In dem Antrag mit der Eingangsnummer 1900-73/84 schreiben die revolutionären Ge­fangenen an die Kommandantur der Ausnahmezustandsverwal­tung:

»Er wurde am 16. 5. 1973 aus seiner Zelle in die MIT-Zentrale geschafft und dort durch Folter getötet... Die Tatsache, daß die

 

zuständigen Stellen und die Öffentlichkeit nicht über diesen am 18. 5. 1973 begangenen Mord informiert wurden, ist der beste Beweis für diesen Mord.«

Die Antragsteller bekamen von nirgendwo auch nur die gering­ste Antwort. Es war eine finstere Zeit für die Türkei. Zwei fort-schritdiche Menschen erhoben in diesen finsteren Tagen ihre Stim­men: Im Juli 1973 sagte der Parlamentsabgeordnete aus Ordu, Ferda Güley, während einer Rede in Bolu:

»Väter! Ich weiß davon, daß ein Vater einen Brief erhielt, der noch mit den gesunden Händen seines Sohnes zwei Tage vorher geschrieben wurde; ich weiß, wie er auf diesen Brief hin Essen und Kleidung eingepackt und voller Hoffnung, seinen Sohn zu sehen, ihn umarmen zu können zum Gefängnis fuhr, wie er dort zu hören bekam, daß sein Sohn einen Tag vorher Selbstmord verübt hätte, und wie er ihn in seine Heimat mitgenommen hat, und wie von Kugeln durchlöchert der Leichnam seines Sohnes war...!«

Und, wiederum im Juli 1973, stellte der unabhängige Parlaments­abgeordnete M. Ali Aybar eine Anfrage an den Ministerpräsiden­ten, die er in 10 Unterpunkten weiter ausführte. Sie begann mit:

»Ist es wahr, daß Kaypakkaya an der Folter, die während des Verhörs angewandt wurde, gestorben ist?«

Doch auch die beiden Summen erhielten von den Verantwortli­chen jener Zeit nicht die geringste Antwort.

Nachdem die TKP-ML- und TIKKO-Prozesse* eröffnet wur­den, deren Hauptangeklagter Ibo war, überreichten die Angeklag­ten am Verhandlungstag des 6. November 1973 dem Vorsitzenden der 2. Kammer des Militärgerichts der 1. Armeekommandantur ei­ne lange Erklärung. Darin schrieben sie, daß Ibo von einem Mör­derkomplott unter Federführung des zuständigen Staatsanwalts Yasar Degerli erst gefoltert und dann standrechtlich erschossen wor­den sei:

»... Der Genösse Ibrahim wurde am 16. Mai 1973 um 10 Uhr aus sei­ner Zelle geschleppt. Die anderen Gefangenen im gleichen Zellengang konnten dies beobachten. Einige Tage später kursierte unter den wach­habenden Soldaten in der Staatsanwaltschaft das Gerücht von Ibrahims Tod, woraufhin einige Gefangene sich an die Gefängnisleitung wand­ten. Ihnen wurde erklärt, daß die Kommandantur Ibrahim am 16. Mai

128

zum Verhör bestellt und zwei Tage später ohne Angabe von Gründen angeordnet hätte, Ibrahims Namen aus den Gefängnislisten zu strei­chen.

In den gleichen Tagen hörten die Gefangenen, die zum Verhör zur Militärstaatsanwaltschaft gebracht wurden, von den dort wachhaben­den Soldaten, daß Ibrahims Leichnam von Kugeln durchlöchert im obersten Stockwerk des Gebäudes liege.

An dem Tag, an dem Ibrahim aus seiner Zelle zum Verhör geholt worden war, hatte sich Cemil Oktay wegen eines gewöhnlichen Verge­hens zum Verhör bei der Militärstaatsanwaltschaft befunden. Er beob­achtete dort, wie Ibrahim mit verbundenen Augen von einigen in Zivil gekleideten Personen aus der Militärstaatsanwaltschaft herausgeführt und in ein ziviles Fahrzeug gesetzt wurde. Dies erzählte er bei seiner Rückkehr in das Untersuchungsgefängnis den Mitgefangenen Seyithan Dokay und Hasan Ilter.

Hasan Ilter hatte während einer Gegenüberstellung mit Ibo gehört, wie der Staatsanwalt Yasar Degerli zu Ibo sagte: >Deine Strafe werden wir dir bald mit unseren eigenen Händen verpassend

Mustafa Karadag, der im Rahmen des THKO-Prozesses in Haß war, bekam während eines Verhörs bei MIT von Yasar Degerli zu hö­ren: >Wenn du nicht redest, dann sieht dein Ende so aus wie das von Ibrahim Kaypakkaya. Den haben wir letzte Woche begrabend Dies er­zählte Mustafa Karadag im Gefängnis Arslan Kilic* weiter, einem der engsten Freunde von Ibrahim.

Der Genösse Ibrahim Kaypakkaya steht in der Tradition eines Dimitrov, der mit seinem Blut >Vergiß nicht, du bist ein Kommunist!< an die Decke der Nazi-Folterkammer schrieb, um so jedesmal, wenn man ihn zur Bastonade anband, dies zu lesen und den faschistischen Hen­kern weiter Widerstand leisten zu können.

 

Er steht in der Tradition des französischen Kommunisten George Politzer, der, dem Hinrichtungs­kommando der Nazis gegenüberstehend, den Soldaten zurief: >Ich habe für eure Befreiung gekämpft! Ihr vernichtet eure Befreiung !< Er steht in der Tradition eines Ernst Thälmann, der den Kugeln der Nazis furcht­los gegenüberstand, steht in der Tradition der vietnamesischen Helden, die ihren Kampf unter allen Umständen weiterführten und dem Tod noch mit dem Ruf>Es lebe Ho Chi Minh!< begegneten...

Revolutionäre, die ihr Leben dem Kampf des Proletariats und der Völker gewidmet haben, begehen keinen Selbstmord aus Furcht vorfa­nd-schistischer Tyrannei und Unterdrückung. Vielmehr ist Selbstmord der Ausweg, den die faschistischen Hunde in ihrer Furcht vor dem revolu­tionären Kampf des Volkes wählen!

All diese eindeutigen Tatsachen machen deutlich, daß unser Führer, der Genösse Ibrahim Kaypakkaya, nicht Selbstmord begangen hat, son­dern ERMORDET worden ist.../«

Auch auf diese Erklärung kam von offizieller Seite keine Reaktion. Die Verantwortlichen stellten sich blind und taub...

... Und wenn der April in den Mai übergeht und die Erde zu grü­nen beginnt, der Schnee sich in die Berge zurückzieht, das Wasser sich zu kräuseln und die Luft sich zu erwärmen beginnt, dann erin­nert Ali Kaypakkaya sich an Ibo. Er geht zu seinem Sohn, hockt sich neben ihn und läßt die Erinnerungen wieder aufleben. In sei­nem Ohr klingen Ibos letzte Worte aus seinem Brief:

 

»Ich grüße Euch und küsse Euch die Hände,

Meiner Amme und meiner Mutter küsse ich die Hände, die Kinder küsse ich auf die Augen.

Sorgt Euch nicht um mich. Mir geht es gut, und im Moment brauche ich nichts. Auf Wiedersehen

Euer Sohn Ibrahim...«

Die Erde über Ibo ist bedeckt mit Gras. Im Sommer bewegt sich die Erde. Wer es sieht, meint, es sei Ibos Atem.

Und wenn der 18. Tag des Mai kommt, strömen die Bewohner der umliegenden Dörfer herbei, gehen an Ibos Grab vorbei und se­hen es als eine große Ehre an, Ibo zu gedenken.

Dann hat auch der Schnee über Ali Haydar, der weit entfernt am Fuße der Berge liegt, schon zu schmelzen begonnen.

 

Der Schnee vereint sich mit der Erde, verdunstet in der Luft und findet sich in Klageliedern wieder. Die Leute aus seinem Dorf, alle, die von ei­nem Felsen zum anderen, von einem Dorf zum anderen wandern, sehen dann im Vorbeigehen Ali Haydar.

 

 

Und wenn es Mai geworden ist, tauchen Hunderte von jungen Körpern aus der Erde. Jeder von ihnen mit der Schönheit einer Knospe, eines Blattes, einer Wiese, eines Zweiges, eines Sprößlings ... Und jeder von ihnen durch so viele Kämpfe gegangen ...

 

 

GESANG FÜR DIE MÜTTER TOTER REPUBLIKANER

Sie sind nicht tot! Sie stehen muten

im Pulverdampf

aufrecht, wie brennende Lunten!

Ihre reinen Schatten haben sich vereint

auf den kupferfarbenen Wiesen

wie ein Vorbang gepanzerter Luft,

wie eine Sperre von der Farbe der Wut,

wie die ganz unsichtbare Brust des Himmels.

Mütter! Sie stehn in den Weizenfeldern,

hoch wie der mächtige Mittag,

sie beherrschen die riesige Ebene!

Sie sind Getön von dunkelstimmigen Glocken,

die über die Leiber aus gemordetem Stahl

Sieg rufen.

Schwestern gleich zerfallenem Staub, gebrochene

 Herzen,

vertraut euren Toten!

Sie sind nicht nur Wurzeln

 unter den blutigen Steinen,

 nicht nur bestellt ihr armes zerfallenes Gebein 

 das Land für immer,

 

sondern selbst ihre Münder beißen trocknes Pulver                                        

und greifen an wie Ozeane aus Eisen, und selbst        

ihre geballten Fäuste erhoben widersprechen dem Tod.

(Neruda-Zitat aus: Pablo Neruda, Das lyrische Werk, Bd. L, S. 175, Darmstadt, 1984.)

 

Erläuterungen in alphabetischer Reihenfolge

Alevit

Eine bestimmte religiöse Gruppierung innerhalb des islamisch-schiiti­schen Glaubens. Die Aleviten haben den Schwiegersohn Mohammeds und 4. Kalifen Ali als ihren religiösen Führer ausgewählt.

Ali S.o.

Arslan Kilic

Einer der Beschuldigten im TIKKO-Prozeß der Periode des 12. März (1972).

Ausnahmezustand

Hier ist der faschistische Militärputsch vom 12. März 1971 gemeint. Der bis 1974 andauernde Ausnahmezustand wird die »Periode des 12. März« genannt.

B.D.-Leitung

 Leitung von MIT

Blutiger Sonntag

Am Sonntag, dem 16. Februar 1968 griffen religiös-fundamentalistische und reaktionäre Kräfte eine von antiimperialistischen und fortschrittli­chen Menschen veranstaltete Kundgebung brutal an. Es gab viele Ver­wundete und mehrere Tote.

Bora Gözen

Studentenführer der 68er Generation. Er ging nach 1972 nach Palästina und kam bei einem israelischen Angriff um.

Ciban Alptekin

Einer der revolutionären Studentenführer der 68er Generation. Er war ei­ner der jungen Menschen, die bei dem Massaker von Kizildere am 31. März 1972 vom Militär umgebracht wurden.

Deniz, Yusuf, Hüseyin

Die drei Namen, die zum Symbol für den Kampf der revolutionären Ju­gend nach 1968 wurden: Deniz Gezmis, Yusuf Aslan, Hüseyin Inan. Sie gründeten die Befreiungsarmee des türkischen Volkes (Türkiye Halk Kuitulus Ordusu - THKO). Sie wurden am Morgen des 6. Mai 1972 hingerichtet.

Dersim-Aufstand

Dersim - der heutige Name ist Tunceli - ist eine Stadt in Nordkurdistan innerhalb der Grenzen des türkischen Staates. 1938 wurden nach einem Aufstand der in der Region lebenden Kurden rund 50000 Kurden von türkischen Militärs umgebracht.

DP

Demokrat Parti (Demokratische Partei) Rechtskonservative Partei; Re­gierungspartei 1950-1960. Nach dem Militärputsch am 27. Mai 1960 wurden die drei führenden Vertreter der DP hingerichtet.

Dyb.B.D.Bsk. Meint die Abteilung Diyabakir der MET

Fikir Klub

Dt. »Gedankenklub«. Dies waren vor 1970 Vereinigungen fortschritti-cher, demokratischer Studenten. Die »Fikir Klubs« vereinigten sich in der »Föderation der Fikir Klubs« (FKF).

Forum, Ant, Türk Solu, Aydinlik Sosyalist

Namen linker Zeitschriften zu Beginn der 70er Jahre

1S.-16. Juni 1970

An diesen Tagen fanden von Istanbul ausgehend gewaltige Arbeiterauf­stände statt. Hunderttausende von Arbeitern verließen die Fabriken und gingen auf die Straßen.

Hanife Canik, Cem Somel, Süleyman Yesil

Beschuldigte im gleichen Verfahren wie I. Kaypakkaya.

Hasan Zengin, Kaya Bozoklar u. a.

Beschuldigte im gleichen Verfahren wie I. Kaypakkaya.

Ist.B.D.Bsk.

Meint die Abteilung Istanbul der MIT

Kizilay

Ein Stadtteil im Zentrum von Ankara

Mahir und die anderen

Mahir Cayan und vier seiner Freunde, alle revolutionäre Studentenführer der 68er Generation, gruben 1972 aus dem Militärgefängnis, in dem sie festgehalten wurden, einen Tunnel in die Freiheit. Auch sie kamen am 31. März 1972 in Kizildere um.

Memorandum vom 12, März 1973

Die Feiern zum 1. Jahrestag des faschistischen Militärputsches vom 12. März 1972

MIT

Milli Istihbarat Teskilati - Nationale Nachrichten-Organisation - die ge­heimpolizeiliche Organisation der Türkei

Mucadele Birlikleri

Dt.: Kampfeinheiten — militante religiös-fundamentalistische, reaktionäre Sammlungsbewegung.

 

 

Mustafa Suphi

Der Begründer der Türkischen Kommunistischen Partei. Er wurde wäh­rend der Regierungszeit Atatürks am 29. Januar 1921 zusammen mit 14 politischen Freunden im Schwarzen Meer ertränkt.

19. Mai

Der 19. Mai 1919 ist der Tag, an dem Kemal Atatürk nach Samsun (Schwarzmeerküste) aufbrach und wird als Beginn des nationalen Befrei­ungskrieges angesehen. Unter dem Namen »Festtag der Jugend und des Sports« wird der 19. Mai jedes Jahr als Nationaler Feiertag begangen.

 

ÖmerAyna

Einer der revolutionären Studentenführer der 68er Generation. Auch er kam am 31. März 1972 bei dem Massaker in Kizildere um.

 

Orhan Kemal, Sabahattin Ali

Zwei der bedeutendsten Schriftsteller und Intellektuellen der Türkei in diesem Jahrhundert. S. Ali wurde 1948 im Alter von 42 Jahren unter my­steriösen Umständen umgebracht. O. Kemal (1914-1970)

 

P.Yb.

Piyade Yüzbasi - Hauptmann der Infanterie

 

Safak revisyonism tezleri

Die Thesen einer linken Gruppe vor 1970, die sich den Namen »safak« (Morgendämmerung) gab.

 

6. Flotte

Die Flotte der amerikanischen Marine, die sich im Mittelmeer aufhält. Sie geht ab und zu im Bosporus vor Istanbul vor Anker.

 

Sinan Cemgil, Kadir Manga, Alparslan özdogan

Drei junge Revolutionäre, die am 31. Mai 1971 in den Nurhak-Bergen von Militärs erschossen wurden.

 

THA Eine türkische Nachrichtenagentur (Türk Haber Ajansi)

 

    TIKKO

Türkiye Isci Köylü Kurtulus. Ordusu - Befreiungsarmee der Arbeiter

und Bauern der Türkei.

 

TKP/ML

Türkiye Komünist Partisi Marksist Leninist - Kommunistische Partei der

Türkei /Marxisten Leninisten. Diese Partei wurde von I. Kaypakkaya

gegründet.

 

Ülkü Ocaklari

Militante faschistische Gruppierung. Die Mitglieder der »Ülkü Ocaklan«

nennen sich "Bozkurtlar« - Graue Wölfe. dl: Nationale Sammlung

 

Wieder war Blut...

Hier wird eine Verbindung zwischen Kaypakkayas Tod und dem Tod

von Deniz, Yusuf und Hüseyin gezogen - alle starben sie im Mai.

----son-----

 

 

 

  

TABURE - Muzaffer Oruçoğlu

TABURE - Muzaffer Oruçoğlu
İstanbul Teknik Üniversitesi’nin Gümüşsuyu Amfisi, 1970’in eylülünde Dev-Genç’in parkeli, sarkık bıyıklı militanlarıyla tıklım tıklım dolmuştu. Sahnedeki masada, toplantıyı yöneten üç kişi vardı. Ortada, Filistin’e gidip geldikten sonra tutuklanan ve bir müddet yattıktan sonra serbest bırakılan İstanbul Dev-Genç Bölge Yürütme Komitesi başkanı Cihan Alptekin oturuyordu. Amfiye, elde olan hazır güçlerle, emperyalizme ve işbirlikçilerine karşı, Latin Amerikalı devrimcilerin yaptığı gibi bir an önce silahlı harekete geçme eğilimi hakimdi. İbo kent fokosu olarak gördüğü bu eğilimin, gençliği kendi kitlesinden koparacağı ve emekçi sınıflarla bütünleştirmeyeceği kanısındaydı. Daha önceki Dev-Genç forumlarında, bireysel terör, kendiliğindencilik, ekonomizm üzerine Dev -Genç kadrolarıyla tartışmış, onları İstanbul’un işçi bölgeleri ile toprak sorununun yakıcı olduğu yerlere yönlendirme çabası içine girmiş, direnişi ve silahlı mücadeleyi oralarda örgütlemeye çağırmış olduğu için herkes İbo’nun toplantıya gelme amacını ve neler söyleyeceğini üç aşağı beş yukarı tahmin ediyordu. Hatta tahminin de ötesine geçiyor, İbo’nun üniversitedeki sağlam kavgacı unsurları araklayıp, kendi çalıştığı fabrikalar semtine, Alibeyköy’e ve Trakya’ya götüreceğini, üniversiteleri savunmasız durumda bırakmakla kalmayacağını, götürdüklerini de oralarda pasifize edeceğini söylüyordu. İbo biraz da Doğu Perinçek’in daha önce, gençliğin üniversite sınırları içindeki mücadelesini çelik çomak oyununa benzeterek küçümsemesinin cezasını çekiyordu. Dev- Genç kadroları PDA içindeki görüş ayrılıklarını bilmediği için İbo’nun Perinçek gibi düşündüğü sanısına kapılıyorlardı. Kızgınlıkları biraz da bundandı. İbo, ben, Garbis, Kabil Kocatürk, birkaç kişi daha, grup halinde toplantıyı izliyoruz. Konu, Cihan Alptekin, Necmi Demir, Ömer Erim Süerkan, Gökalp Eren, Namık Kemal Boya ve Mustafa Zülkadiroğlu’ndan oluşan Dev-Genç Bölge Yürütme Kurulu içindeki anlaşmazlıklar. Konu açılıyor, tartışmalar başluyor, Zülkadiroğlu saymanlıktan istifa ediyor. Tartışmaların kızıştığı bir anda, söz alanlardan birisi, gençliğin emekçi sınıflara açılması gerektiğinden, aksi taktirde iç didişmelerin artacağından söz ediyor. Bir diğeri, militan gençliğin, kitle çalışması kisvesi altında, kavga alanlarından çekilerek pasifize edilmek istendiğinden dem vuruyor. Bunun üzerine kolunu kaldırıp söz istiyor İbo. Görmezlikten geliyor Cihan Alptekin, bir başkasına söz veriyor. İbo’nun konuşması durumunda ortamın elektirikleneceğini iyi biliyor. Konuşmacı sözünü bitirdikten sonra İbo kolunu kaldırıyor. Yine görmezlikten gelip bir başkasına söz veriyor Cihan. Arkamızda oturan militanlar, tatsız yorumlarla laf dokunduruyorlar bize. İbo duyacak diye endişeleniyorum. Kafasını bana doğru çevirerek, “Örgüt içi demokrasi dar bir çete tarafından resmen yok ediliyor,” diye mırıldanıyor. “Biraz bekle,” diyorum. Bekliyor. Birkaç kişi daha konuştuktan sonra el kaldırıyor. Ben de kaldırıyorum. Toplantının selameti için hiçbirimize söz hakkı vermiyor Cihan. İbo bu kez olduğu yerden: “Deminden beridir el kaldırıp söz istiyorum, söz vermiyorsun,” diyor. “Söz almadan konuşma,” diye uyarıyor Cihan. “Siz iktidar mücadelesini kendi içinizde kendiniz gibi düşünmeyenleri susturarak mı vereceksiniz? Düşünceler çatışmazsa doğrular nasıl çıkacak ortaya?” Cihan’ın, “Söz almadan konuşuyor, usulsüzlük yapıyorsun, otur yerine!” uyarısını arkadan gelen tehditvari uyarılar izliyor: “Otur yerine be, ne konuşacaksın!” “Seni gençliğin militan mücadelesi içinde göremiyoruz İbrahim, otur yerine, senin ne diyeceğini biliyoruz biz.” İbo bu kez geri dönerek, “Ben de sizleri işçi semtlerinde, grev çadırlarında göremiyorum,” diye çıkışınca, “Otur yerine,” sesleri çoğaldı. Amfideki tüm kafalar İbo’ya yöneldi. İbo yönünü tekrar sahneye doğru çevirip konuşmasını sürdürünce, ülkedeki siyasi atmosfer ile Bölge Yürütme Kurulu’nun içindeki çekişmelerin gerdiği sinirler, habis bir uğultu halini aldı. Arkamızda bulunan militanlardan Bombacı Zihni (Zihni Çetin), “Otur ulan otur, diyorum sana!” diye bağırarak, oturduğu tabureyi kaldırıp İbo’nun kafasına vurdu. Dehşet içinde kaldım. Kabil Kocatürk Zihni’ye ve arkadaşlarına doğru hörelenince kolundan çektim. Grubun içinde, Nahit Tören, Taner Kutlay, Zeki Erginbay, Mustafa Zülkadiroğlu gibi Dev-Genç’in mücadele içinde pişmiş ünlü militanları vardı. Nahit gibi birkaçının belinde de tabanca vardı. Zihni elindeki tabureyi yere koydu, durgunlaştı. Mücadeleci ve sinirli bir insandı. Harp okulundayken, öğretmeni Talat Aydemir’in örgütlediği 1963 darbesine katılmış, tutuklanıp üç yıl hapis yatmış, çıktıktan sonra 68 eylemlerine katılmış, Filistine gidip gelmiş fedakar bir insandı. İbo’nun kafası kırılmış, kırıktan boşanan kan, alnından yüzüne, boynuna ve göğsüne yayılmıştı. Dik durmaya çalışıyordu ama benzi solmuştu. Bir koluna Ragıp Zarakol diğerine de hatırlayamadığım birisi girmişti. İstanbul Teknik Üniversitesi Gümüşsuyu binası, Dev-Genç’in en önemli üssü olduğu için polis binadaki olayları anında haber alıyordu. Az sonra polis ekibi geliyor, İbo’yu alıp götürüyor. Nereye götürdüklerini bilemiyoruz. Karanlık çöktüğünde geliyor İbo. “Beni alıp Karakola götürdüler,” diye anlatıyor. “Kafama bant çektikten sonra sorguya aldılar. Komünistler arasında post kavgasının olduğunu, birilerinin vurduğunu ileri sürdüler. Kabul etmedim, merdivenden düştüğümü söyledim, tutanağa öyle geçti.”

MKP 3. Kongre Tanıtım Videosu.Tek Bölüm

MKP 3. Kongre Tanıtım Videosu.Tek Bölüm
Bu video, mkp 3. Kongresinin, emperyalist dünya sistemine ilişkin fikirlerini, Türkiye Kuzey Kürdistan'ın sosyo ekonomik yapı tahliline ilişkin yaklaşımını ve devrimin niteliğine (demokratik devrimin görevlerini üstlenen, sosyalist devrime) ilişkin anlayışını, devrimin yolu olan sosyalist halk savaşını ve demokratik halk devrimi, sosyalizm ve komünizm projesini (gelecek toplum projesinde devlet anlayışını), ulus ve azınlıklar, ezilen inançlar, kadın ve lgbtt'ler, ve gezi ayaklanmasına ilişkin fikirlerini, birlik ve eylembirliği anlayışını, ittifaklar politikasını, yerel yönetimler anlayışını, işçi partisi değerlendirmesini ve komünist enternasyonale ilişkin güncel görevler yaklaşımını içermektedir.

https://www.muzafferorucoglu.com/?lng=tr

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Ve Durgun Akardı Don Gençliğimde hayalimin sınırlarını aşmama yol açan, beni en çok etkileyen roman. Don kazaklarının yaşamı, iç savaş, toprak kokusu, aşk, yaratım ve yıkım. Şolohov iç dünyamdaki yerini hep korudu. 24 Mayıs 1936’da Şolohov, Stalin’in daçasına gidiyor. Sohbetten sonra Stalin Solohov’a bir şişe kanyak hediye ediyor. Solohov evine geldikten bir müddet sonra kanyağı içmek istiyor ama karısı, hatıradır diye engel oluyor. Solohov, defalarca kanyağı içme eğilimi gösterdiğinde, karşısına hep karısı dikiliyor. Aradan üç yıl geçiyor, Solohov ünlü eseri, dört ciltlik ‘Ve Durgun Akardı Don’u, on üç yıllık bir çabanın sonunda bitirip karısından kanyağı isteyince arzusuna erişiyor ve 21 aralıkta, Stalin’in doğum gününe denk getirerek içiyor. Tabi biz bu durumu, Şolohov’un Stalin’e yazdığı mektuptan öğreniyoruz. Durgun Don’dan bir alıntıyla bitirelim: “Bizleri, insanoğlunu birbirimize karşı çıkardılar; kurt sürülerinden beter. Ne yana baksan nefret. Bazen kendi kendime, acaba bir insanı ısırsam kudurur mu, diye sorduğum oluyor.” (1. Cilt) ---------

Çamurdan ayaklı ahmaklar kaldırdıkları kayanın altında kalacaklar

Çamurdan ayaklı ahmaklar kaldırdıkları kayanın altında kalacaklar
Devrimci ve İlerici Kamuoyuna, Büyük Proleter Kültür Devrimi’nin ender haleflerinden, Türkiye’de, devrimci komünist/proleter enternasyonalist çizginin temsilcisi, Maoist ekolün kurucusu, önder İbrahim Kaypakkaya karşı yine iğrenç, alçakça, çamurdan bir saldırıyla karşı karşıyayız. Bizler böylesi iğrenç, alçakça çamurdan saldırıları geçmişten de biliyoruz. İbrahim Kaypakkaya’yı “seni bizat kendi ellerimle geberteceğim” diyen Yaşar Değerli’nin, “sanık İbrahim Kaypakkaya, intihar etmiştir” diye başlayan bu saldırısı sırasıyla, Nasyonal Sosyalist Doğu Perinçek’in 70’lerden buyana dillendirdiği “intihar” yalanıyla, ardından Orhan Kotan’ın, “Rızgari” adına yayınlanan Diyarbakır Hapisanesi Raporu’ndaki “o işkenceye kimse dayanamaz, İbrahim’in direnişi şehir efsanesidir” çamurlarıyla devam edilmiştir. Bugünkü saldırının failleri ise bizat önder Kaypakkaya’nın kurduğu ekolün yıllar içerisinde epey, bir hayli dejenere olmuş, paslanmış, küflenmiş halinin sonuçları olan tek tek safralardır. Bu safralar kendilerinin muhatap alınmasını, attıkları çamurun gündem olmasını ve tartışılmasını istiyorlar. Görünürde ilk kuşaktan olup, Koordinasyon Komitesi üyelerini ama özellikle de Muzaffer Oruçoğlu’nu hedef alıyor muş gibi yapan bu iğrenç, alçakca çamur faaliyetin ESAS amacı ve HEDEFİ aslında, İbrahim Kaypakkaya’nın fikirleriyle hesaplaşmaktan kaçıp, onun geride kalan kemiklerini (“otopsi isterük” naralarıyla) taciz ve teşhir ettikten sonra çamura batırmaktır. Şayet biz İbocular, balık hafızalı değilsek, Kaypakkaya yoldaşın koptuğu Türkiye İhtilalci İşçi Köylü Partisi’nin önde gelen kalan kadrolarının 1972 senesi içerisinde (sırasıyla Hasan Yalçın, Gün Zileli, Oral Çalışlar, Ferit İlsever, Nuri Çolakoğlu, Halil Berktay ve Doğu Perinçek’in) yakalandıklarını ve bunların polis ve savcılık ifadelerinde İbrahim Kaypakkaya hakkında gayet kapsamlı ve derinlikli bilgi verdiklerini çok iyi biliriz. Şayet biz İbocular, balık hafızalı değilsek, 3 Kasım 1972’de Ankara’daki Marmara Köşkü'nde yapılan Devlet Brifingi'nde “Diyarbakırda yakalanan gençlerin örgüt evlinde Kemalizm ve Milli Mesele Üzerine adlı bölücü yazıların çıktığına” dikkat çekildiğini gayet iyi hatırlarız. Şayet biz İbocular, balık hafızalı değilsek, önderimiz İbrahim Kaypakkaya’nın 28 Şubat 1973’de zincirle bağlı bulunduğu yatağından kaleme aldığı, adeta vasiyeti sayılacak mektupta, “saflarımızda çözülenleri ve moral bozanları derhal atın” dediğini nasıl unuturuz? Şayet biz İbocular, balık hafızalı değilsek, buna mukabil başta Muzaffer Oruçoğlu olmak üzere Koordinasyon Komitesi mensuplarının direnmediklerini ve çözüldüklerini de iyi hatırlarız. Ve önder Kaypakkaya’yı en son gören tanıklardan olan yoldaş Hasan Zengin’in, çapraz hücrede kalan İbrahim Kaypakkaya’nın yanına Yaşar Değerli ve Güneydoğu Anadolu Sıkı Yöneim Komutanı Şükrü Olcay’ında bulunduğu kalabalık, sivil giyimli bir heyetin geldiğini ve bu heyet ile Kaypakkaya arasında geçen konuşmanın muhtevasını da gayet iyi biliriz: Zira o “konuşmada” DEVLET, İbrahim Kaypakkaya’ya adeta “bu yazdıklarını savunuyor musun, hala arkasında mısın” diye sormuştur. İbrahim’de “evet, savunuyorum ve arkasındayım” demiştir. Ve onun için ister işkenceyle, ister kurşunla olsun Kaypakkaya, “arkadaşlarının 21 Nisan 1973’den itibaren çözülmeleri sonucunda”, “devletin aslında öldürmeyecekken dikkatini çekmiş masum bir öğrenci olduğu için” DEĞİL, ta başından beri DEVLETİN sahip olduğu İSTİHBARATIN sonucu İNFAZ edilmiştir. Şayet biz İbocular, balık hafızalı değilsek, 1. Ana Dava Dosyası’na konan ve müptezellerin bize unutturmaya çalıştıkları, MİT raporundaki şu saptamayı da hiçbir zaman akıldan çıkartmayız: “Türkiye’de komünist mücadelede şimdiki haliyle en tehlikeli olan Kaypakkaya’nın fikirleridir. Onun yazılarında sunduğu görüşler ve öngördüğü mücadele metotları için hiç çekinmeden ihtilalci komünizmin Türkiye’ye uygulanması diyebiliriz.” Şayet biz İbocular, balık hafızalı değilsek, ABD emperyalistleri tarafından “Soğuk Savaş” yıllarında yayınlanan The Communist Year Book’un 1973 baskısında önder İbrahim Kaypakkaya başta olmak üzere, Ali Haydar Yıldız, Meral Yakar ve Ahmet Muharrem Çiçek’in ölüm haberlerinin H. Karpat tarafından adeta zafer edasıyla duyrulduğunu biliriz. İşte tüm bu nedenlerden ötürü bugün bu iğrenç, alçakça çamur saldırının ana hedefi kati surette Muzaffer Oruçoğlu DEĞİLDİR. Bu iğrenç, alçakça, çamur saldırının ANA HEDEFİ önder İbrahim Kaypakkaya’nın ser verip sır vermediği, devrimci komünist, proleter enternasyonalist siyasi ve ideolojik hattır. Bugün bu iğrenç, alçakça, çamur saldırıyı başlatıp yürüten safralar, İbocu hattan ta 70’lerin ikinci yarısında kopup, evvela Enver Hoca’cılığı tercih eden, sonra devrimciliği bitirip, şimdilerde Dersimcilik yaparak statü sahibi olmaya çalışan, Büyük Proleter Kültür Devrimi’ne “katliam” diyecek kadar antikomünistleşenlerdir. Ve ne ilginçtir ki, bu safralar geçmişteki anlatımlarında (mesela Kırmızı Gül Buz İçinde belgeseli için verdikleri yaklaşık 3 saatlik mülakatte) tek kelime bugünkü iddialarından bahsetmemişlerdir. Keza o günlerde karşılaştıkları Arslan Kılıç’la da gayet mülayim mülayim sohbet etmişlerdir. Bugün bu iğrenç, alçakça, çamur saldırıyı başlatıp, yürüten safraların bazıları ise kişisel öç alma derdinde olanlardır. Bunlar yıllarca İbocu=Dersimci denklemiyle eğitilmiş ama gerçekte İbrahim Kaypakkaya’nın ve onun dayandığı bütün bir komünist bilimle değil, Dersim’in yüzyıllarca sahip olduğu feodal kültürle yoğurulmuş müptezellerdir. Bu safralar, Kürt Milli Hareketi ile aileleri arasında yaşanan kanlı antagonizmaya, sırtlarını dayadıkları, Dersimli gördükleri, İboculukla alakası olmayan pragmatist hareketin ikircikli politikasına karşı gelip, kendilerini Türk şovenizminin Dersim temsilcisi eski CHP’li vekillerin kollarına atanlardır. Bu müptezellerin, vaktiyle Doğu Perinçek’in, Arslan Kılıç’a talimat verip, Arslan Kılıç’ında, “Ordu Göreve” pankartıyla bilinen, Nasyonal Sosyalist Gökçe Fırat’ın, “Türk Solu” dergisinde kalem oynatan Turhan Feyizoğlu’na siparişle yazdırdığı, İbo kitabının basımına nasıl cevaz verdikleri bilinir (bu kitap, hiç utanma ve arlanma duyulmaksızın bütün “İbo anma gecelerinde” de maslarda sergilenir). İbo kitabının dayandığı iki iddia vardır: 1. İbrahim Kaypakkaya, TİİKP’den “bir kadın meselesinden ötürü ayrılmıştır”. 2. İbrahim Kaypakkaya, “jiletle intihar etmiştir”. İşin ilginç yanı şudur ki bu çamur kitabın “Önsözü”, gayet övücü sözlerle Muzaffer Oruçoğlu tarafından yazılmıştır. Ve bugün Oruçoğlu konusunda çok hassasiyet sahibi imiş gibi gözüküp, bu iğrenç, alçakça, çamur saldırının başını çekenler tarafından da o dönemde basımına ve dağıtımına onay verilmiştir. Bugün bu iğrenç, alçakça, çamur saldırıyı başlatan bir diğer safra ise, yazdığı 9 sayfalık çamur yazının altına imzasını koyamayacak kadar alçak ve korkaktır. Bu müptezelin davet edilmediği, 2017’de Darmstadt’da buluşan İbocu geleneğin farklı nesillerinin toplantısında, birden ortaya çıktığı ve “Arslan Kılıç, İbrahim’den teorik olarak ileriydi. Ben Arslan ağabey ile konuştum. İbrahim işkence falan görmedi, intihar etti” der demez, nasıl linç edilmekten son anda kurtulduğu ve topuklarını yağlayıp, nasıl sırra kadem bastığı da bilinir. Bugün bu iğrenç, alçakça, çamur saldırıda kullanan TKP/ML 1. Ana Dava Dosyası’nın biz İbocular açısından zerre kadar özgül ve orijinal tek bir yanı yoktur. O dosyanın yegane özelliği, o dönemki kadroların alttan alta önder İbrahim Kaypakkaya’nın 5 Temel Belgesi’ne nasıl ŞÜPHE duymaya başladıklarının göstergesidir. (Zaten onun içindir ki, ortak bir savunma yapılamamaıştır) Bu ŞÜPHE’nin daha sonra 1978’de yapılan 1. Konferans’da verilen “Özeleştiri” ile TEORİLEŞTİRİLDİĞİ ve bugünlere dek uzayıp geldiğni de zaten hepimiz görmekteyiz. Öte yandan bu iğrenç, alçakça, çamur saldırının manidar boyutları da vardır ve ne ilginçdir ki, bir zamanlar Sosyal Emperyalistlerin Türkiye temsilcisi İsmail Bilen ve Haydar Kutlu TKP’sinin kurduğu TÜSTAV arşivinin envanterinde, TKP/ML 1. Ana Dava Dosyası gözükmekle birlikte, çevrim içi bu dosyanın tek bir sayfası dahi dijital olarak TÜSTAV sitesinde BULUNMAZKEN, iğrenç, alçakça, çamur saldırının sorumlusu, bahsi geçen müptezellerine kim veya kimler tarafından SERVİS edildiği ve hatta Türkiye’den Ethem Sancak’ın ortağı olduğu Türk-Rus ortak arama motoru YANDEX’e kim veya kimler tarafından da yüklendiğidir. Dünyanın olası bir 3. Emperyalist savaşla burun buruna geldiği, Türkiye’de islamcı-faşist bir rejimin 20 yıldır kendisini adım adım tahkim ettiği bir ortamda, önder İbrahim Kaypakkaya’ya yapılan bu iğrenç, alçakça, çamur saldırının insanlığa ve devrime zerre kadar faydasının olmadığı son derece aşikardır. Yeni, genç nesiller bu iğrenç, alçakça, çamur saldırıdan ne öğrenecektir? Çamurdan ayaklı bu ahmaklar, İbrahim Kaypakkaya’ya karşı bir kaya kaldırdılar. Hiç kimsenin şüphesi olmasın. Tarihsel olarak şimdiden o kayanın altında kalmışlardır. İnanmayan Hasan Yalçın’a, Gün Zileli’ye, Oral Çalışlar’a, Ferit İlsever’e, Nuri Çolakoğlu’na, Halil Berktay’a, Doğu Perinçek’e, Yaşar Değerli’ye, Orhan Kotan’a, Turhan Feyizoğlu’na baksın. Tüm bu adlar bugün hangi siyasi ideolojilk hela deliğine yuvarlandılarsa bu iğrenç, alçakça, çamur saldırının başını çeken safralar da o deliğe yuvarlanacaklardır...

Sınıf Teorisi - Partizan

Sınıf Teorisi - Partizan
Katledilişinin 50. Yılında Komünist Önder İbrahim Kaypakkaya Yol Göstermeye Devam Ediyor! ''Türkiye'nin Geleceği Çelikten Yoğruluyor, Belki Biz Olmayacağız Ama, Bu Çelik Aldığı Suyu Unutmayacak'' İbrahim Kaypakkaya

Türkiye Üzerine : Şark Meselesi

Türkiye Üzerine : Şark Meselesi
Amerika'da yayınlanan New York Tribune, iki yüz bini aşan tirajıyla, o yıllarda, belki de dünyanın en büyük gazetesiydi. «Türkiye Üzerine» Marx'ın bu gazeteye, «Şark Meselesi» ile ilgili olarak yazdığı makaleleri kapsamaktadır. «Türkiye Üzerine», geçen yüzyılda büyük devletler arasında kurulan politik ilişkilere «Şark Meselesi» açısından ışık tuttuğu gibi, Marx'ın Osmanlı İmparatorluğunun politik durumu ve toplumsal (sosyal) yapısı hakkındaki fikirlerini de dile getirir; bu bakımdan bizi özellikle ilgilendirmektedir. Bu yazılardan bir kısmının tamamen Marx' a ait olmadığı açıklamalar da belirtilmiştir. Biz, karışıklık olmasın diye, geleneğe uyarak, «Marx'ın» dedik. (Bkz. Kitabın sonunda yer alan)